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nmz-archiv
nmz 2005/02 | Seite 12
54. Jahrgang | Februar
Nachschlag
Was braucht der Mensch?
Gerne wird zurzeit über das angeblich neue Verhältnis
von Mensch und Arbeit diskutiert. Von Wirtschaftsseite wird dabei
die Position vertreten, dass der mitteleuropäische Mensch zu
wenig Anpassungsfähigkeiten an die neuen Bedingungen vorweise.
Sprich: Er ist nicht gehaltsflexibel nach unten, verweigere also
den Niedriglohnsektor, er ist nicht mobil genug, das heißt
er wandert nicht gern zu den Stellen, wo es (noch) Arbeit gibt,
sondern verweilt lieber sentimental am eigenen Ort, er denkt nicht
gerne um, sondern betrachtet seinen Arbeitsplatz als Versorgungsanstalt
gleichsam von der Wiege bis zum Grabe.
Das Resultat lautet: Der mitteleuropäische Mensch muss sich
den neuen, global diktierten Arbeitsbedingungen anpassen (er muss
also mitmachen), oder er wird, überschwemmt von Milliarden
Handys aus China und Abermillionen Playstations aus Japan, untergehen.
Den Untergang im Angesicht ergeht er sich weiterhin in Nebensächlichkeiten,
hört und liebt Musik und andere Künste, geht gerne gut
essen, denkt über Sinn oder gar Moral nach. All dies sind in
den Augen unserer Macher beziehungsweise Wegmacher Verfallssymptome,
Indizien für Daseinsstrukturen, die den Gleichschritt mit der
Zeit nicht mehr schaffen und folglich nach Darwin’schem Gesetz
aussterben.
In diesem Zusammenhang ist es nur folgerichtig, sich die Frage
zu stellen, ob es diese antiquierten Dinge überhaupt noch braucht.
Wozu braucht ein Fluss Fische, wozu ein Wald Bäume? („Wer
sagt denn, dass im Rhein Fische schwimmen müssen”, wurde
im deutschen Parlament vor einigen Jahrzehnten in der Tat schon
einmal gefragt; und die 68er diskutierten parallel allen Ernstes,
ob eine Zeit des revolutionären Aufbegehrens der Kunst bedürfe!)
Wozu braucht es Bücher, wozu Musik? Es genügen doch bei
eventuellem Restbedarf virtuelle Wälder und zur Beruhigung
der Gehirnströme ein computergenerierter Sound.
Diese Fragen werden vielleicht nicht immer ausgesprochen, in den
Hirnen der Rentabilitätsoptimierer, die der Gegenwart den Takt
vorgeben, sind sie längst feste Größen. Thoreau
hat einmal darüber nachgedacht, auf wie viel der Mensch verzichten
kann, ohne die Würde seines Daseins einzubüßen.
Heute wird überlegt, wie viel an solcher Würde genommen
werden kann, ohne die Kosten-Nutzen-Rechnung in Schieflage zu bringen.
Ärgerlich für die Vertreter solcher Denkmuster ist es,
dass der von ihnen so gut gebündelte Sack der Menschheit, dieses
kurz geschlossene Produktions- und Konsumptionssystem, immer wieder
Risse kriegt, aus dem ein singender Mund, ein überlegender
Kopf, eine zeichnende oder schreibende Hand, ein lesendes Auge herausgucken.
Und je fester die Verschnürung ist, je stabiler der Sack, desto
kreativer werden einige der Eingeschlossenen im Erfinden neuer Durchbrüche.
Es scheint einer der großen Konstruktionsfehler des Menschen,
dass er immer wieder zum kreatürlichen Tun drängt, dass
die Lust daran nicht zu knebeln ist. Doch die Bemühungen zur
Fehlerbehebung laufen auf vollen Touren. Man befindet sich schließlich
am längeren, nämlich am ökonomischen Hebel. Und fortgesetzter
Entzug hebt ja die Entzugserscheinung letztlich auf. Man fragt sich,
wie lange es dauert, bis der Mensch den Verlust von Wald oder Musik
nicht mehr spürt. Wie lange es also dauert, bis der Sack endgültig
zu bleibt.
Auf die Idee, die Denkrichtung zu ändern, kommt man natürlich
nicht: Also vom System, dem der Mensch zu genügen hat, umzudenken
auf den Menschen, dem das System dient. Denn das hieße ja,
das Gesetz der Wertemaximierung mit falschen Prioritäten zu
gefährden.