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nmz-archiv
nmz 2005/02 | Seite 39
54. Jahrgang | Februar
Bücher
Musik und Gesellschaft
Eine Lokalstudie zur sozialen Vernetzung der Neuen Musik
Michael Custodis: Die soziale Isolation der Neuen Musik.
Zum Kölner Musikleben nach 1945 (= Beihefte zum Archiv für
Musikwissenschaft, Bd. 54), Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2004,
256 S., € 48,00, ISBN 3-515-08375-8
So alt wie die Neue Musik ist die Klage über die tiefe Kluft
zwischen der neuen Musik und breiten Publikumskreisen. Ebenso alt
sind die Schuldzuweisungen beim Versuch, die Ursachen dieser Situation
ausfindig zu machen. Sie richten sich entweder an die musikalischen
Avantgarden, die beim unentwegten Voranstürmen die Hörer
hinter sich gelassen und schließlich ganz vergessen haben,
oder an das Publikum, das nicht bereit ist, sich auf Neues und Ungewohntes
einzulassen, weil es sich – sofern es überhaupt noch
„klassische“ oder „E-Musik“ hört –
bequem im vertrauten Repertoire eingerichtet hat. Das Dilemma der
„sozialen Isolation der neuen Musik“ und die Preisfrage,
wie ihm abzuhelfen sei, treibt alle um: Komponisten, Verleger, Veranstalter,
Journalisten, Redakteure und zuweilen auch Musikologen.
Ursache und Wirkung
Die Berliner Dissertationsschrift des Musikwissenschaftlers und
Soziologen Michael Custodis verspricht eine Analyse der historischen,
ästhetischen, sozialen, politischen und ökonomischen Ursachen
und Wirkungen der „sozialen Isolation der neuen Musik“.
Aber – um es gleich vorweg zu sagen – sie hält
ihr Versprechen nicht. Das liegt allerdings nicht an der Arbeit
selbst, sondern an der Verwechslung ihres Obertitels mit dem Untertitel.
Tatsächlich ist das Buch eine anregende und materialreiche
Darstellung der Kölner Musikgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg,
die aber ebenso gut den Titel „Die soziale Verankerung der
Musik“ tragen könnte. Abbruch tut der Lektüre lediglich
das sehr mangelhafte Lektorat, das einer Reihe wie dem „Beiheft
zum Archiv für Musikwissenschaft“ unwürdig ist.
Auch liefert die Arbeit an diesem Erscheinungsort ein Beispiel für
die soziale Isolation der Musikwissenschaft. Die Kapitel sind streng
in Dekaden von den 1940er- bis in die 80er-Jahre eingeteilt und
weiter gegliedert in Unterkapitel zur Musikhochschule, zum WDR,
zu einzelnen Rundfunk-Redaktionen, Spielstätten, Gesellschaften,
Initiativen und einigen herausragenden Komponisten. Neben vielen
unveröffentlichten Dokumenten, Akten und Briefen wird aus bereits
vorliegenden Publikationen viel Bekanntes zur Kultur- und Musikgeschichte
Kölns referiert, ohne dass dabei neue Perspektiven auf Gründe
und Ursachen für die soziale Isolation der Neuen Musik entworfen
würden. An Stelle der starren Chronologie wäre dem Thema
vielleicht ein systematischer Zugriff angemessener gewesen. Während
die verschiedenen Aspekte sozialer Isolation in den einzelnen Kapiteln
selbst kaum zur Sprache kommen, erfolgt die Anwendung der hier quellenreich
zusammengetragenen historischen Befunde auf das eigentliche Thema
erst im Schlusskapitel, wo sie ohne direkten Bezug auf die historischen
Umstände jedoch zu pauschal ausfällt.
Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen der WDR, das elektronische
Studio des WDR und vor allem Karlheinz Stockhausen. Als ständiger
Mitarbeiter im elektronischen Studio des WDR seit 1953, als dessen
Leiter 1963 bis 1973 und Leiter der Kölner Kurse für Neue
Musik 1963 bis 1968 sowie als Professor für Komposition an
der Musikhochschule 1971 bis 1977 spielte Stockhausen zweifellos
eine maßgebliche Rolle beim Aufbau von musikalischen Institutionen,
Gruppierungen und Kontakten in Köln und darüber hinaus.
Die Fokussierung auf diesen Komponisten führt zuweilen jedoch
zu weit. Allein den Vorbereitungen zum Musikprogramm im Kugelauditorium
bei der Weltausstellung in Osaka 1970 sind mit seitenlang zitierten
Aktenvermerken aus dem Auswärtigen Amt 25 Seiten gewidmet,
wobei der Umstand, dass bei dieser Gelegenheit eine Million Menschen
vor allem mit Musik von Stockhausen in Berührung kamen, ausgerechnet
einen triftigen Gegenbeweis liefert gegen die These von der gesellschaftlichen
Isolation der neuen Musik. Fraglich bleibt auch, ob es richtig war,
mit Stockhausen einen Komponisten in den Mittelpunkt zu stellen,
der sich seit Jahren systematisch von der Außenwelt abschottet
und weder Rundfunk, Zeitungen noch Fernsehen nutzt, mit zuweilen
fatalen Folgen, wie seine Äußerungen zu den Attentaten
des 11. September 2001 zeigten. Seitens des Autors wären hier
klarere Relativierungen und einige vergleichende Seitenblicke auf
die ältere Musikgeschichte und andere Kunstsparten angebracht
gewesen. Die äußere Isolation gegenüber der Öffentlichkeit
traf schon Beethovens späte Streichquartette, und so wie heute
neue Lyrik-Bände selbst in großen Verlagen wegen Absatzschwäche
nur in geringen Auflagen erscheinen, waren auch die wenigen Exemplare
der Erstausgabe von Goethes „West-östlichem Divan“
noch Jahrzehnte nach dem Tod des Dichterfürsten erhältlich.
Auch die innere Isolation der Komponisten und Initiativen untereinander
ist kein Spezifikum der Neuen Musik, sondern ein Phänomen des
gesamten Musikbetriebs, der sich seit Jahren immer weiter in Sparten
und Untersparten aufspaltet.
Aufgezwungene Einheit
Während sich die jungen Komponisten in den 50er-Jahren noch
weitgehend einig wussten in ihrer Ablehnung des akademischen und
teils unzulänglich entnazifizierten Musik- und Lehrbetriebs,
kam es in den 60er-Jahren verstärkt zu organisatorischen, politischen
und ästhetischen Konflikten zwischen den Protagonisten und
dementsprechend zur Ausdifferenzierung der Neuen Musik-Szene in
unterschiedliche Richtungen. Historisch bemerkenswert sind jedoch
nicht – wie Custodis unterstreicht – die stilistischen
Abgrenzungen zwischen den Akteuren, diese gab es zu allen Zeiten,
sondern die ihnen von außen aufgezwungene Einheit in der Ablehnung
der jüngsten deutschen Vergangenheit. Im Fall der Konflikte
Stockhausens mit Kagel, Ligeti und einigen seiner Schüler beschränkt
sich Custodis auf bloße Gegenüberstellungen der Positionen,
ohne selber Stellung zu beziehen. Hier fehlt dem Buch die Stimme
seines Autors. Ansonsten hat Custodis großes Talent zum anschaulichen
Erzählen von Geschichte. Trotz der zuweilen einseitigen und
zu eng auf bestimmte Personen und Institutionen fixierten Darstellung
ist jeder, der sich über Entwicklungen der Neuen Musik in Köln
nach 1945 informieren möchte, mit seinem Buch gut beraten.