[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/02 | Seite 36
54. Jahrgang | Februar
Rezensionen
Ein Jahrhundert der Klavierinterpretation
14 große Pianisten auf 20 CDs, Aufnahmen ausgewählt
und kommentiert von Joachim Kaiser
Musik kann so einfach sein. Ein Jahrhundert sammelt und hortet
seine Schätze, der Liebhaber mit seinem nie absterbenden Wunsch
nach Überblick (denn er weiß, dass er ihn allenfalls
lückenhaft hat, und das gräbt in ihm wie der ewige Wunsch
nach dem All-Wissen) nimmt dankbar Leitlinien dafür auf.
Ob es nun 50 wichtige Romane des 20. Jahrhunderts oder eben 14
Pianisten sind, die ebenfalls prägend auf das Jahrhundert wirkten,
es bleibt sich gleich. Unser enzyklopädisches Verlangen wird
zumindest vorübergehend gestillt. Dumm der Verlag, der Herausgeber,
der da nicht zugreift. Und Musik ist ohnehin eine herrliche Sache!
Eines vorweg: Wer seinen Schallplattenschrank durchforstet und dabei
feststellt, dass er, sagen wir, 75 Prozent der im oder vom Klavier
Kaiser veröffentlichten Aufnahmen nicht hat, für den ist
die Anschaffung der Kassette (für 99 Euro) ein Gewinn. Denn
die Musik und ihre Interpretation sind verbürgt großartig.
Einen Irrtum kann es da gar nicht geben, Schlagseiten und schmerzliche
Lücken (subjektiv empfundene aber auch objektive) wird jeder
akzeptieren, da man mit dem Erwerb die Beschränktheit des Umfangs
in Kauf nimmt.
Wie viele könnten so eine Box herausgeben, ebenso stimmig,
ebenso einen Überblick verschaffend? Die Kunst liegt weniger
im Finden als im Weglassen. Vermutlich recht viele würden das
bewerkstelligen. Und dennoch würde die Auswahl nicht in gleichem
Maße gesellschaftlich akzeptiert. Hier nämlich tritt
eines hinzu, ein gleichsam auratischer Aspekt. Joachim Kaiser hat
sich diese Aura erworben: im Grunde dadurch, dass er ein halbes
Jahrhundert lang Pianisten belauschte, sie kritisierte, ihren Lebensweg
verfolgte. Und er verstand es, einen eigenen Ton der Musikbetrachtung
zu etablieren.
Es ist etwas Changierendes an dieser Kassette. Fast jeder sieht
sie so, als würde eine Topliste der großen Klavierinterpreten
des vergangenen Jahrhunderts aufgestellt. Dieser Anschein wird nirgendwo
geleugnet, der Slogan „Kultaufnahmen großer Klaviermusik
– reich ist, wer sie besitzt“ unterstreicht dies. Dennoch
hält man sich geschickt im neutraleren Umfeld und schreibt
einfach „14 große Pianisten auf 20 CDs. Die schönsten
Aufnahmen ausgewählt und kommentiert von Joachim Kaiser.“
Vielleicht gibt es einmal eine zweite Box mit 14 weiteren großen
Pianisten (fast aus dem Stegreif könnte man von Rachmaninow
über Backhaus, Erdmann, Judina, Gilels, Richter, Ney bis hin
zu Biret, Pogorelich, Kissin, Schiff, Kocsis, Aimard oder Mustonen
eine zweite Reihe in Gang setzen, und eine dritte stellt sich fast
parallel ein), aber sie könnte die Aura der Ersterwählten
nicht erreichen, ja würde diese sogar gefährden. Hier
sind es Rubinstein, Fischer, Argerich, Schnabel, Pollini, Kempff,
Horowitz, Barenboim, Michelangeli, Brendel, Lipatti, Arrau, Solomon
und Gould (und nur die Nennung von Barenboim als allererste Wahl
könnte freundschaftliche Befangenheit andeuten). Und Kaiser
gibt ihnen gewissermaßen Prädikate mit, die ihre Einordnung
im Stauraum unseres Gehirns erleichtern. Rubinstein ist der „Orpheus
des Klaviers“, Fischer besitzt „Gewaltige Elementarkraft“,
Argerich ist die „Temperamentvolle Göttin“, Schnabel
zeichnet sich aus durch „Tiefgründige Spiritualität“,
Pollini durch „Wahrhaftige Einfühlung“, Kempff
ist „Der poetische Meister“, Horowitz der „Jahrhundert-Virtuose“,
Solomon, wir überspringen einige Pianisten, besitzt „Die
Kraft des Überprivaten“ und Gould ist „Der geniale
Exzentriker“.
Stimmt das? Natürlich nicht! Interpretatorische Weiten, die
differenzierte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Welten der
Klaviermusik meinen ein Universum an Charakterzügen und zum
Beispiel Gould könnte ebenso als Konzentriker wie als Exzentriker
beschrieben werden. Aber Kaiser trifft natürlich immer einen
Punkt der betreffenden Persönlichkeit ganz genau. Es ist vielleicht
der Punkt, der ihm in jedem Falle besonders am Herzen liegt. Und
noch etwas liegt ihm am Herzen: die Klaviermusik des ausgehenden
18. und des 19. Jahrhunderts. Überschreitungen sind rar, extremer
Pol ist Pollinis phantastische Interpretation von Schönbergs
Klavierkonzert, aber hier endet schon die Palette. Für Kaiser
scheint hier die große Klaviermusik, im Grunde die große
Musik, an ein Ende gekommen. Das ist schade. Was ist mit der Klaviermusik
von Ives, Janácek, Bartók, Berg, Webern, Strawinsky,
Boulez, Stockhausen, Nono, Rihm oder Lutoslawski? Eines ist klar:
Sie wäre gewiss schwerer zu vermitteln und das erlaubt die
Strategie dieser Kassette nicht. Denn sie zielt natürlich auf
hohe Verkaufszahlen. Und noch eines: Diese Musik hätte wohl
kaum die enthusiastische Fürsprache Joachim Kaisers erfahren,
die den Stücken der Box zuteil wird. Denn dies sind Einspielungen,
die Kaiser mit auf die Insel nehmen würde. Und das Wort „göttlich“,
gepaart mit Tiefe, Erschütterung und anderen wird immer wieder
herangezogen, wenn er über die Interpretationen spricht. Kaiser
versteht es dabei immer, den Kern der pianistischen Ansätze
zu benennen und auf besonders eindringliche Stellen zu verweisen.
Das ist anschaulich, nicht zu komplex und somit für jeden,
der im emphatischen Sinne zuhört, verständlich. Kaiser
nimmt viele an die Hand und vermittelt schlagend seine Begeisterung,
ohne nur an der Oberfläche zu bleiben. Und er hat viel versammelt,
was prägend die Geschichte des über Einspielungen zugänglichen
Klavierspiels beeinflusste. Es ist ein Punkt, von dem aus weiterzudenken
wäre: mit anderen Blickwinkeln, mit Mut zum Neuen. Dieser Punkt,
in dem sich Kaisers weiter Erfahrungshorizont versammelt, wurde
benannt.
Reinhard Schulz
Klavier Kaiser. 14 große Pianisten auf 20 Cds (Artur Rubinstein,
Edwin Fischer, Martha Argerich, Artur Schnabel, Maurizio Pollini,
Wilhelm Kempff, Vladimir Horowitz, Daniel Barenboim, Arturo Benedetti
Michelangeli, Alfred Brendel, Dinu Lipatti, Claudio Arrau, Solomon,
Glenn Gould)
Verlag Süddeutsche Zeitung