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nmz 2005/02 | Seite 35
54. Jahrgang | Februar
Rezensionen

Vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Ein Streifzug durch 1.000 Jahre Chormusik auf aktuellen CDs

„Verschollene Lieder eines rheinischen Harfners“ nennt sich das aktuelle Programm des seit 1977 bestehenden Mittelalter-Ensembles Sequentia. Benjamin Bagby, sein Mitbegründer und Leiter, hat sich nach dem Tode Barbara Thorntons (deren Andenken diese Aufnahme gewidmet ist) nach neuen Mitstreitern umsehen müssen, die sich jedoch ausgezeichnet in die Tradition einfügen. Harfen, Lyra, Flöten (eine davon aus Schwanenknochen), drei Stimmen – mehr bedarf es nicht, um nach äußerst sorgfältiger Vorbereitung die versunkene Ära um das Jahr 1000 aufleben zu lassen. Wie fern uns diese ist, merkt man weniger den lateinischen Gesangstexten als der großen Gelassenheit im Umgang mit dem Faktor Zeit an. Eine durch sicheres Stilempfinden und eine kongeniale tontechnische Umsetzung beispielhafte Produktion.

Während Sequentia ihre Gesamtschau der musikalischen Werke Hildegard von Bingens (nach deren eigenen geistlichen Textdichtungen) in den 90er-Jahren abschließen konnten, sind die Damen um die Amerikanerin Stevie Wishart, die sich mit dem Namen Sinfonye schmücken, erst bei der dritten Folge angelangt. Die Arrangements gerieten mit gelegentlicher Drehleier oder Truhenorgel (für stützende Borduntöne) eher sparsam, dafür dürfen wir uns hier neben stimmschönen Sologesängen und gregorianischen Chorälen nachempfundenen Stücken bereits an einfachen, häufig aus dem Stegreif improvisierten Formen früher Mehrstimmigkeit erfreuen – wie dem Organum, wo zwei melodiegleiche Stimmen im Abstand einer Quart oder Quint geführt werden. Wer Frauenstimmen à la Anonymous 4 schätzt, dem werden Sinfonye viel Freude machen.

Vom 12. ins 15. Jahrhundert ist es nicht nur zeitlich, sondern auch musikgeschichtlich ein großer Sprung: Jacob Obrecht, dessen 500. Todestag wir 2005 begehen, war einer der führenden Vertreter der für ihre kunstreiche Polyphonie berühmten franko-flämischen Schule. Indem sie etwa Vokale zu endlosen Melismen auszierte, wurde die vordem im Mittelpunkt stehende Textaussage der Messen und Motetten verdunkelt, was bei allem feierlichen Ernst doch mehr das satztechnische Können des Komponisten und die Virtuosität der Ausführenden in den Vordergrund rückte. Und davon ist bei der gemischt besetzten englischen Clerk’s Group, die unter anderem durch ihre Ockeghem-Totale in diesem anspruchsvollen Repertoire bewandert ist, reichlich geboten.

Weitere hundert Jahre später stand in Italien die vokale Kammermusik auf weltliche Texte in ihrer Blüte; insbesondere die Leiden, mit denen die Wechselfälle der Liebe verbunden sind, benutzten die damaligen Tonsetzer als Vorwand für subtile Wortausdeutungen. 1592 veröffentlichte der erst 25-jährige Monteverdi bereits seine dritte Madrigalsammlung. Der auf Männerstimmen beschränkten italienischen Gruppe Delitiæ Musicæ, welche sich für Naxos alle Madrigalbücher in chronologischer Folge vornimmt, gelingt es ausgezeichnet, die Schönheiten und den Formenreichtum dieser für ein adliges Spezialpublikum geschaffenen Kleinodien herauszuarbeiten. Im direkten Vergleich mit den Geniestreichen Monteverdis wirkt Gesualdos leicht verspätetes Debüt als Komponist nur zwei Jahre darauf geradezu schulbuchmäßig. Vom dissonanten Wagemut seiner späteren, hochdramatischen Werke ist in dieser Talentprobe noch kaum etwas zu spüren. Doch danken wir dem jungen Kassiopeia-Quintett, dass es diese selten zu hörenden Madrigale wenigstens einmal in einer hochkarätigen Interpretation zugänglich gemacht hat.

Wann Monteverdi seine trotz einiger Verluste umfangreich überlieferten Beiträge zur Kirchenmusik geschaffen hat, können bestenfalls Stilanalysen erhellen. Die Choristen und Instrumentalisten des King’s Consort, die sich nun sämtliche liturgischen Kompositionen des Musikdramatikers vorgenommen haben, koppeln deshalb jeweils Vertonungen unterschiedlicher Texte und wechselnden Anspruchs. Die erste, keinen Wunsch offen lassende Folge dieser lange überfälligen Serie (deren beide letzte Tracks sich wegen eines Fertigungsfehlers leider nicht abspielen ließen) lässt mich freudig auf die Fortsetzung warten: Nur bei wenigen Komponisten findet man innerhalb eines Stückes einen solchen Reichtum an Ausdrucksmitteln – vom chromatischen Arioso über das konzertierende Duett bis hin zur volltönenden, instrumental verstärkten Chorpracht, deren Prunk vom damaligen Selbstbewusstsein der reichen Venezianer kündet. Diese frühbarocken Motetten, die der berühmten Marienvesper in nichts nachstehen, entfalten ihre wohltuende Wirkung wohl am ehesten, wenn man sie in kleinen Dosen genießt.

Das Charpentier-Jahr 2004 (300. Todestag!) glitt hier nahezu unbemerkt vorüber. Dabei steht sein Rang als bedeutendster Komponist geistlicher Vokalmusik in Frankreich außer Frage, seitdem sich der Amerikaner (!) William Christie systematisch seines Œuvres annimmt. Dessen (nach einem Werk Charpentiers benannten) „Les Arts Florissants“ regen immer wieder auch andere Ensembles zur Beschäftigung mit diesem 250 Jahre lang vergessenen Großmeister an; zwei der jüngsten Beispiele seinen hier kurz vorgestellt: Les Pages et les Chantres heißt eine Formation unter der Leitung von Olivier Schneebeli, die aus vierzehn überwiegend kurzen Stücken „Vespern für den heiligen Ludwig“, dem Namenspatron der französischen Könige, zusammengestellt und passenderweise in der königlichen Hofkapelle zu Versailles aufgezeichnet hat. Für Lebendigkeit des Vortrags und Farbigkeit des Klangs ist schon durch den Einsatz des gemischten Chors samt Knaben- und Mädchenstimmen gesorgt. Mit der irritierenden, konsequent französischen Aussprache des Lateinischen muss man sich abfinden; dafür hat sich das kleine Label Alpha mit der graphischen Gestaltung der Papphülle und dem dicken Beiheft besondere Mühe gegeben. Im Vergleich strenger, weil präziser realisiert der relativ üppig besetzte Chor von Ex Cathedra drei ausgedehntere Werke Charpentiers, allen voran eine vierchörige Messe; die ruhmreiche englische Chortradition kommt hier mit erfrischendem Ergebnis einem Komponisten zugute, der gewiss nie zum Inselrepertoire gezählt hat.

Auf die für die jährliche Fastenzeit bestimmte Komposition von dramatischen Chorwerken auf erbauliche englische Texte hat sich Händel bekanntlich erst spezialisiert, als italienische Opern aus der Mode kamen – was nicht hieß, dass Oratorien deshalb langweilig oder statisch ausfallen mussten; dieser Eindruck ist erst durch die romantisch gefärbten Interpretationen späterer Jahrhunderte entstanden. Dass der „Messias“ kein Einzelfall war, haben uns Gardiner, Harnoncourt und Hogwood vermittelt. Mit Händels vorletzten originalen Oratorium „Theodora“ haben wir eines seiner in jeder Hinsicht reifsten und ausgewogensten Werke vor uns. Der Misserfolg bei der Uraufführung 1750 lag wohl daran, dass das (überaus gelungene) Libretto Morells von der Konvention abweicht, indem es keinem alttestamentarischen Vorwurf folgt, sondern das traurige Schicksal zweier frühchristlicher Märtyrer schildert. Dass Händel vom Parodieverfahren hier wiederum reichlichen Gebrauch machte, wobei er sich bei seinen Kollegen Clari, Lotti, Muffat und Steffani bediente, war aus der Arbeitsökonomie geborene, gängige Praxis und diente nur dem Zweck, die stärkstmögliche Wirkung hervorzurufen – sowohl bezogen auf den darzustellenden Affekt als auch im Hinblick auf das größere Ganze. Dass der späte Barock hier allmählich in das empfindsame Zeitalter übergeht, wird an der atmosphärischen Aufladung der Arien und der Intimität mancher Chorsätze spürbar.

Die bereits erwähnten, jederzeit schlank und beweglich, zart und fließend agierenden Les Arts Florissants sind auch hier ganz in ihrem Element. Was nach Liquidation der Erato wohl aus William Christie wird? Über die beteiligten Musiker nämlich, allen voran Sophie Daneman, die kongeniale Verkörperung der tragischen Titelheldin, welcher die bewegendsten Momente der an Schönheiten nicht armen Partitur zufallen, verliert Warner jedenfalls keine Silbe – eine schon bei Virgin beobachtete Unsitte, die hoffentlich nicht einreißt.

Nikolaus Harnoncourt hat sich nach über zwanzig Jahren erneut das Mozart-Requiem vorgenommen, und das Ergebnis überzeugt auf Anhieb. Die frühere Version war aufnahmetechnisch insdikutabel; die aktuelle, aus mehreren Konzerten montierte SACD profitiert selbst in herkömmlicher Stereo-Wiedergabe von der grandiosen Akustik des Großen Saals im Wiener Musikverein, aber auch vom fulminanten Können des Arnold-Schönberg-Chors, dem dank Harnoncourts inspirierender Anleitung eine atmend-beseelte, in keiner Sekunde bloß routinierte Interpretation des grandiosen Fragments gelingt. Da jedoch die authentischen, von Mozart allein verantworteten Teile (deren Autograph als CD-ROM-Track enthalten ist; eine nachahmenswerte Initiative!) bestenfalls zwei Drittel des Stücks ausmachen, bleibt der Gesamteindruck wie stets ein zwiespältiger. Ganz anders das zwanzig Jahre früher entstandene Requiem von Michael Haydn (das Mozart kannte, weil er bei dessen Salzburger Aufführungen mit seinem Vater im Orchester saß): Wie die beiden der CD hinzugefügten, vom Kammerorchester Lausanne duftig musizierten Sinfonien vermag es als Werk durch seinen tiefen Ernst und den Verzicht auf Theatralik vollkommen zu überzeugen. Dass Michael Haydns kleiner Bruder einen so bescheidenen Ruf genießt, hängt in keiner Weise mit einem womöglich bescheideneren kompositorischen Vermögen zusammen, sondern nur mit dem persönlichen Pech, im Schatten zweier Genies gewirkt zu haben. Dem Choeur de Chambre Suisse und dem aufs Dirigentenpult gewechselten Pianisten Christian Zacharias stellt diese CD ein hervorragendes Zeugnis aus; auch die Solistenquartette beider vorgenannter CDs bieten jeweils eine in sich geschlossene Leistung.

Etwas knapper hingewiesen sei hier auf zwei wichtige Wiederveröffentlichungen: Trotz kärglicher Ausstattung, klanglicher Patina und eines recht stolzen Preises ist die erste Gesamtaufnahme von Schönbergs Gurreliedern (Paris 1953) sehr zu empfehlen, denn die noch immer spürbare zeitliche Nähe zur Entstehungszeit und die strenge Probenarbeit des Webern-Schülers und legendären Beethoven-Dirigenten René Leibowitz ermöglichten eine idiomatisch absolut stimmige Umsetzung der riesenhaften Partitur.

Eine Schönberg und Mahler in den Schatten stellende, wörtlich zu verstehende Symphonie der Tausend, schuf Havergal Brian mit seiner Ersten, der sogenannten „Gotischen“ – eigentlich eine dreisätzige Sinfonie, gefolgt von einem Berlioz übertrumpfenden Te Deum. Nach dem ersten Weltkrieg entstanden, wurde das Werk des Briten, der in biblischem Alter weitere 31 Sinfonien vollendete, erst in den sechziger Jahren uraufgeführt. In dieser bislang einzigen Einspielung aus dem Jahre 1989 erstreckt es sich über zwei Stunden und beschäftigt insgesamt sieben Chöre. Mit der schon organisatorisch beeindruckenden Leistung des Dirigenten Ondrej Lenárd kann man sich jetzt bei Naxos zum Budget-Preis befassen.

Mátyás Kiss

Diskografie

  • Lost Songs Of A Rhineland Harper. Sequentia. deutsche harmonia mundi/BMG SACD 82876 58940 2
  • Hildegard von Bingen: The Complete Vol. 3. Sinfonye. Celestial Harmonies/Naxos 13129-2
  • Jacob Obrecht: Missa sub tuum praesidium. The Clerk’s Group, Ltg. Edward Wickham. Gaudeamus/Codaex CD GAU 341
  • Claudio Monteverdi: Il Terzo Libro de’ Madirigali, 1592. Delitiae Musicae, Ltg. Marco Longhini. Naxos 8.555309
  • Don Carlo Gesualdo: Madrigali, Libro Primo (1594). The Kassiopeia Quintet. Globe/Codaex GLO 5221
  • Claudio Monteverdi: The Sacred Music Vol. 1. The King’s Consort, Ltg. Robert King. Hyperion/Codaex CDA67428
  • Marc-Antoine Charpentier: Messe à quatre choeurs, Le reniement de St Pierre, Salut de la veille des ‘O’. Ex Cathedra, Ltg. Jeffrey Skidmore. Hyperion/Codaex CDA67435
  • Marc-Antoine Charpentier: Vêpres pour Saint Louis. Les pages & les chantres, Ltg. Olivier Schneebeli. Alpha/Note 1 050
  • Georg Friedrich Händel: Theodora. Daneman, Taylor, Croft, Berg, Galstian, Slaars; Les Arts Florissants, Ltg. William Christie. Erato/Warner 0927 43181-2 (3 CDs)
  • Wolfgang Amadé Mozart: Requiem. Schäfer, Fink, Streit, Finley, Arnold-Schönberg-Chor, Concentus Musicus Wien, Ltg. Nikolaus Harnoncourt. deutsche harmonia mundi/BMG SACD 82876 58705 2
  • Michael Haydn: Requiem, 2 Sinfonien; Zomer, Rasker, Schäfer, Mertens; Choeur de Chambre Suisse, Orchestre de Chambre Lausanne, Ltg. Christian Zacharias. MDG 340 1245-2
  • Arnold Schönberg: Gurrelieder. Lewis, Semser, Tangemann, Riley, Gruber, Gesell; Chor & Orchester der New Symphony Society of Paris, Ltg. René Leibowitz. Preiser/Naxos 90575 (2 CDs)
  • Havergal Brian: Symphony No. 1 „The Gothic“. Slovak Radio Symphony Orchestra, Slovak Philharmonic Orchestra & Choir u.v.a., Ltg. Ondrej Lenard. Naxos 8.557418-19 (2 CDs)
  • Arvo Pärt: Triodion. Polyphony, Ltg. Stephen Layton. Hyperion/Codaex CDA67375

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