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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 48
54. Jahrgang | April
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Space Night
Die mit Abstand beste Fernsehsendung in unserer eintönig-bunten
Medienlandschaft ist die „Space Night“ des Bayerischen
Fernsehens. Wie alles von Qualität wird sie außerhalb
der Hauptsendezeiten ausgestrahlt, genauer: vom Ende des regulären
Programms bis zum Sonnenaufgang. Eine Sendung für Nachteulen.
Zu sehen sind stundenlange Zusammenschnitte von Filmaufnahmen
US-amerikanischer Raumfahrer: Die Erde aus immer wieder anderer
Perspektive, Blicke ins All, Innenaufnahmen aus den Raumschiffen.
Wer Glück hat, erwischt eine der sensationellen Aufnahmen
von den Mondexpeditionen um 1970, die unter dem Namen „Apollo-Programm“
in die Geschichte eingegangen sind. In Anbetracht des täglichen
Bild- und Akustikschrotts ist das, was einen hier erwartet, von
geradezu kathartischer Wirkung. Nach dem üblichen Turbogerede
über Hitler, Hartz und die Hautcreme von Uschi Glas wird man
als Erstes mit einer radikalen Entschleunigung konfrontiert. Die
Bilder, die die Echtzeit der Satellitenbewegung wiedergeben, laufen
wie in Zeitlupe ab. Unterstützt durch die ereignisarme Begleitmusik
zwingen sie den Betrachter zu einer verlangsamten Wahrnehmung. Er
kann seine Aufmerksamkeit in aller Ruhe auf ein Bild und seine Details
richten. Es herrscht eine Zeitempfindung vor, als hätte Morton
Feldman Regie geführt.
Die Ansichten der Erde, einmal aus detailgenauer Nähe, einmal
aus fremdartiger Fernperspektive, sind heute in den allgemeinen
Bildervorrat eingegangen. Und doch beschleicht einen nach wie vor
ein eigentümliches Gefühl angesichts dieser irgendwo im
Raum schwebenden kleinen Kugel, die unsere Heimat ist, auf der wir
als Winzlinge herumlaufen, Straßen und Häuser bauen,
Meere überqueren und „Space Night“ schauen. Es
gibt wohl keine zweite Fernsehsendung, die eine solche Vielfalt
an Assoziationen und Spekulationen zu wecken vermöchte –
und das zum Glück ohne die Kommentare beflissener Moderatoren.
Neben der eigenen Kleinheit rufen die Bilder noch etwas anderes
ins Bewusstsein: die alten Menschheitsträume von der Eroberung
der Welt und der Überwindung der eigenen Beschränktheiten.
Das gängige Wort dafür ist Grenzüberschreitung, sowohl
materiell als auch geistig verstanden. Die Domäne, in der sich
dieser rational nicht begründbare Drang artikuliert, ist die
Imagination. Hier liegt die Wurzel für all die wirklichkeitssprengenden
Visionen, die das Denken immer wieder bewegt haben.
Der Drang zur Grenzüberschreitung ist der Antrieb der Wissenschaft.
Er liegt auch der Suche nach dem Neuen in der Kunst zugrunde. Heute
meinen allerdings manche Künstler, es genüge, diese Suche
ohne Blick nach draußen zu betreiben – rein im Inneren
des Materials, im Vertrauen auf den eigenen schwachen Verstand und
garniert vielleicht mit einigen soziologischen Referenzen.
Diese Art von Materialismus passt zwar gut zum neoliberalen Zeitgeist.
Doch fruchtbarer für die Suche nach Neuem wäre es, wieder
ein wenig das Staunen zu lernen über die jenseits heutiger
Erfahrungen liegenden Wirklichkeiten. Diese gälte es zu erschließen
– im Dialog mit den Wissenschaften, aber mit genuin künstlerischen
Mitteln. Für Begriffsstutzige könnte dazu ein Blick in
die „Space Night“ hilfreich sein.