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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 37-38
54. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Sprach-Verwirrung
Zum vierten Mal in Berlin: MaerzMusik
Über Geschmack soll man nicht streiten, und die alten Kriterien,
mit denen man die Qualität eines Musikwerkes erschließen
zu können glaubte – stilistische Konsistenz etwa, inhaltliche
Aussagekraft oder gar provokative Originalität, und das auf
der Basis einer gewissen Allgemeingültigkeit –, gelten
schon längst als obsolet. Die Musikszene ist zersplittert und
verwirrend bunt wie nie zuvor. Dieses Bild vermittelte die MaerzMusik
auch im vierten Jahrgang recht eindrucksvoll.
Auf einer „offenen Plattform“ für unterschiedlichste
Strömungen „aktueller Musik“ sorgte ein wohl abgestimmter
Mix von Konzert und Klanginstallation, Performance und Musiktheater,
Videoclips und DJ-Dance für anregende Vielfalt und nie abreißende
Klangreize. Häufig gerieten die Grenzen der Genres und Stilrichtungen
ins Fließen – symptomatisch dafür das Eröffnungskonzert
durch die „London Sinfonietta“, in dem ein junges, eher
der Clubszene zugehöriges Publikum Klassiker à la Ligeti
oder Stockhausen und „Warp Works“ – elektronische
Popmusik im instrumentalen Arrangement – unterschiedslos bejubelte.
Ist das nun die neue Leichtigkeit der Klänge, mit der die verbiesterte
E-Musik endlich aus dem Elfenbeinturm geschubst wird und jeder sich
herauspicken kann, was ihm gefällt? Oder kippt das irgendwann
in eine seltsame Nivellierung um, in der alles gleichgültig
ist und beim fröhlichen „E-Musik goes Pop“ die
„E“-Substanz langsam verschwindet?
„Musik im Raum“:
Benedict Masons Donaueschinger Urfassung (unser Bild) wurde
auch in Berlin vorgestellt. Foto: Charlotte Oswald
Unter dem Stichwort „Musica Brasiliera descomposta“
war diese unterhaltsame, nur den eigenen Bedürfnissen folgende
Leichtigkeit als ungemein befruchtend und erfrischend zu erleben.
Da die brasilianische Konzermusik durch europäische Kolonisation
entstand und als „nationale“, identitätsstiftende
Elemente lokale populäre Musikpraktiken in sie eindrangen,
wohnte ihr von Anfang an ein Moment der „Dekomposition“,
des „postmodernen“ Verknüpfens unterschiedlicher
Klangwelten inne. Noch im entlegensten Experiment, im strengsten
Avantgardismus ist das zu spüren; Theorielastigkeit kann gar
nicht erst aufkommen. Für sein Musiktheater „Destino
das Oito“ (Schicksal um Acht) erzeugt Chico Mello äußerst
komplexe und doch leicht durchhörbare Strukturen, indem er
ruhige Klänge von expressiver Dichte zu minimalistischen patterns
zerhackt und wieder neu übereinander schichtet – die
Dramatik einer „Telenovela“ kühlt er mit distanzierenden
Bossa-Nova-Rhythmen zur „Telebossa“ ab. Durch ständige
Wiederholungen, gewissermaßen in der Endlosschleife, enthüllt
das triviale Bühnengeschehen ungeahnte Differenzierungen, Brüche
und Abgründe – bis das Verschwimmen von Fernsehrealität
und Publikumssituation im Warten auf etwas nie Eintretendes denn
doch ermüdet. Madalena Bernardes agiert in ihrer Mini-Oper
„Aperto, meu ex-passo“ als zwitschernder, trillernder,
krächzender und schreiender Kopf im Vogelkäfig, bis sie
die Gitterstäbe aus eigener Stimmkraft zu sprengen vermag.
Mit beweglicher Virtuosität und spielerischem Humor öffnet
die Stimmartistin einen weiten Assoziationsraum von Unterdrückung
und Befreiung. Die eigenwilligen Tonschöpfungen des 1937 eingewanderten
Tschechen Walter Smetak (1913–1937) auf selbstgebauten, skurril
anzuschauenden Drehleiern, Hackbrettern oder überdimensionalen
Flöten vermischen wilde Fugato-Bewegungen mit heftigen Schlagrhythmen
und meditativen, mikrotonalen Linien, ein wenig an den nicht weniger
eigenbrötlerischen Harry Partch erinnernd. Silvia Ocougne hingegen
überführt ihre uraufgeführte „Musik für
zwölf präparierte Gitarren“ in Elektronik, die den
Instrumentalcharakter auslöscht.
Den Versuch, bei allen Divergenzen zu kommunizieren, kennzeichnete
niemand treffender als Mauricio Kagel mit seinem Vokalzyklus „Der
Turm zu Babel“. Bei der Uraufführung des vollständigen,
in achtzehn Sprachen abgefassten Werkes durch die Neuen
Vocalsolisten Stuttgart jedoch verschwammen die einzelnen Nummern
genau zu jener gefürchteten Ununterscheidbarkeit, weil die
einzelnen Sprachcharaktere nicht genau genug artikuliert wurden.
Viel plastischer entfalteten sich die in gewitzten Text- und Lautschichtungen
ebenfalls um genaues Verstehen kreisende Komposition „Gewiss“
von Jan Kopp (geb. 1971) und das in Alptraumfantasien virtuos wuchernde
„Petrrohl“ von Georges Aperghis. Dem Programmschwerpunkt
„Musik – Stimme – Text“ gewann ein Porträt
Walter Zimmermanns eher klanglich-instrumentale Facetten ab: hier
müssen die Musiker des großartigen ensemble recherche
ihr eigenes Spiel mit mehr oder weniger gekonntem Gesang begleiten;
diese Brüchigkeit, Unstimmigkeit zuweilen, fügt den knapp
gezeichneten Stücken noch eine Schicht von Intimität,
von Privatheit, von Suchen und Finden hinzu, wie sie überhaupt
aus einfachsten Bausteinen hintergründige Klangbilder, eher
Klangsituationen schaffen. Mit ungleich größerem Aufwand
kann Sandeep Bahgwati nicht zu solcher Eindringlichkeit vorstoßen:
„Inside a Native Land“, nach einem Gedicht des Komponisten
die Suche nach einer nur im eigenen Inneren
zu findenden Heimat beschreibend, nennt sich „KonzertInstallation
für Soloposaune, 8 Ensemblegruppen und 8-Kanal Live-Elektronik“.
Doch trotz des tapferen Mike Svoboda und seiner Mitstreiter vom
Ensemble Mosaik klappte das Zusammenspiel über größere
räumliche Distanzen nicht so recht und hinterließ eher
den Eindruck zwar schöner und farbenreicher, aber doch beliebiger
und ins Nirgendwo zielender Klänge. Äußerst zwiespältig
auch der Eindruck des großen Abschlussprojekts, Dieter Schnebels
monumentaler „Sinfonie X“, die am Vorabend des 75. Geburtstags
des Komponisten uraufgeführt wurde. Während die experimentelle
Arbeit mit der Theatergruppe „Die Maulwerker“ in den
Siebzigerjahren seinen Ruf als „deutscher John Cage“
begründete, zeigt sich Schnebel hier namentlich im dritten
von MaerzMusik in Auftrag gegebenen Teil, recht nostalgisch, bricht
so manche Klischees seiner Vertonung eines wahren Literaturstreifzugs
durch alle erdenklichen Facetten irdischer und himmlischer Liebe
nur selten auf. Kontraste und Brückenschläge, Öffnungen
in wechselseitige Kommentare schafft eher der rein instrumentale,
vor zehn Jahren verfasste Teil, wenn etwa wuchtige Paukenschläge
und grell sich aufbäumendes Blech auf der Bühne der Philharmonie
in feine, von der Gegenseite heranpfeifende Linien oder geräuschhafte
Impulse zerbröseln.
Auch das wohl spektakulärste Unterfangen des Festivals galt
„Musik im Raum“: die „Berliner Fassung“
von Benedict Masons „felt/ebb/thus/brik/here/array/telling“,
in der Urfassung bereits bei den letzten Donaueschinger Musiktagen
erfolgreich herausgekommen, versetzte die kahle Industriehalle des
stillgelegten Kabelwerks Oberspree in faszinierende Schwingungen.
Dass diese nach langer Schiffsfahrt nur durch einen abenteuerlichen
Sprung über die Wasser erreichbar war – die Reederei
hatte den Landungssteg vergessen – und sich das Gefühl
des Ausgesetztseins in Schneeregen und durch die Halle wehender
Kälte fortsetzte, passte zu den oft zart gedehnten, sich fern
im Raum ereignenden Klängen, die Mitglieder des Ensemble Modern
und der Jungen Deutschen Philharmonie auf circa 600 vom Komponisten
konzipierten Instrumenten produzierten (denen Elektronik ein wenig
auf die Sprünge half).Vor allem von Spieler zu Spieler wandernde
Tonketten von durch die Luft geschwungenen Metallrohren nahmen tatsächlich
so etwas wie skulpturalen Charakter an. Dennoch wurde man das Gefühl
nicht los, in einem Katalog zu blättern (für drei Räume,
Dopplerwellen, Rundbogen etc.), der erst das Material für das
eigentliche Stück bereitstellte.
Spannung, Entwicklung, Erzählung, Bewegung – das vermittelte
eben doch wieder ein „Klassiker“, auch wenn der sich
erklärtermaßen ebenfalls traditionellen Dramaturgien
abhold zeigte: Giacinto Scelsis „Canti del Capricorno“,
gesungen von der legendären, über achtzigjährigen
Michiko Hirayama, deren brüchige Stimme ebenso berührte
wie die allmähliche Wiederbelebung ihrer Energien.