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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 3
54. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Reiche Orchesterfarben, strenge Linien
West-östliche Wege: „Secret Land“ von Tan Dun
und „Kalligraphien“ von Hans Zender
Für Mitteleuropäer war China lange das exotische Reich
der Silberbarken und Porzellanpavillons wie in Mahlers „Lied
von der Erde“. Im Zeitalter der Globalisierung rückt
uns das ferne Riesenland merkwürdig nah: statt teurem Porzellan
produziert und liefert es billige Alltagsgegenstände, Textilien
und elektrotechnische Erzeugnisse. Die deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen
bewegen sich rasant nach oben und nähern sich im Volumen immer
mehr denen der USA an. Obwohl die geistigen und künstlerischen
Traditionen dieses Riesenlandes noch nicht gänzlich der industriellen
Massenproduktion wichen, ist der Verdrängungsprozess mächtig
und offenbar unaufhaltsam.
Wassermusik, nicht von Händel:
Tan Dun. Beide Fotos: Charlotte Oswald
Beispielhaft zeigt sich dies im kompositorischen Schaffen des 1957
geborenen Tan Dun. In der zentralchinesischen Provinz Hunan erlernte
er zunächst einheimische Musikinstrumente wie die Kniegeige
Erhu und die Bambusquerflöte Dizi. Die Kulturrevolution führte
ihn zur Geige und förderte so seine Auseinandersetzung mit
westlichen Traditionen am Konservatorium der Hauptstadt. 1986 ging
Tan zu weiteren Musikstudien nach New York, wo er seitdem lebt und
vielfältigsten Einflüssen ausgesetzt ist. Seine Identität
als chinesischer Komponist hat dies zunächst stimuliert, dann
aber auch in Frage gestellt und nivelliert. Möglicherweise
bedeuten die vielen Auszeichnungen wie Grawemeyer Award, „Komponist
des Jahres“, Grammy und Oscar für ihn nicht nur eine
Förderung, sondern auch einen Anpassungsdruck, der sein künstlerisches
Profil bedroht.
Für die Metropolitan Opera New York schreibt Tan Dun gegenwärtig
an einer neuen Oper, die James Levine 2006 uraufführen wird.
Mit seinem „Paper Concerto“, einem Auftragswerk des
Los Angeles Philharmonic Orchestra, wurde 2003 die neue Walt Disney
Hall eröffnet. Nachdem auch die Symphonie-Orchester von Amsterdam,
Boston, New York, Philadelphia, London und Tokio Kompositionsaufträge
an den vielbeschäftigten Chinesen erteilt hatten, wollten die
Berliner Philharmoniker nicht zurückstehen. Simon Rattle lud
ihn in sein Pariser Haus, ein ehemaliges Bordell, ein und zeigte
ihm dessen Geheimnisse. Dieser Rundgang gehörte zu den Inspirationsquellen
seiner Komposition „Secret Land“, die auch in ihren
Satzüberschriften („Misterioso Adagietto“, „Misterioso
Scherzo“, „Misterioso Melancholia“ und „Misterioso
Generoso“) okkulten Neigungen huldigt.
Tan Duns Kompositionen, häufig Gegenentwürfe zur galoppierenden
Modernisierung Chinas, lassen sich durch elementare Materialien
wie Wasser oder Papier anregen. Die einleuchtende Grundidee von
„Secret Land“ beruht auf der chinesischen Auffassung,
wonach jeder Ton ein Lebewesen mit Kopf und Schwanz, Anfang und
Ende repräsentiert und auch nach seinem Verklingen weiterexistiert.
„Ich versuche, die tonlichen Gesten von einzelnen gezupften
Tönen zu verstärken und in die großen Dimensionen
des Orchesterklangs zu übertragen.“ Die zwölf Cellisten
der Berliner Philharmoniker ersetzen dabei die asiatischen Instrumente
Sitar und Pipa und fungieren als Impulsgeber. Es beginnt mit einer
Glissandowendung eines einzelnen Cellos, die in einem langen Vibrato
endet, bevor sie in die Cellogruppe und dann ins Orchester einwandert.
Leider begnügte sich Tan nicht mit dieser Grundidee, sondern
verband mit dem Titel „Secret Land“ ein anspruchsvolles
Programm: „Die vier Sätze zeigen meine psychologische
Entwicklung bei der Imagination einer realen und zugleich surrealen
Reise: Einerseits ist es eine Entdeckungsreise in das Land der Musik,
des Klangs, der Struktur, der in der westlichen Klassik lange Zeit
unterbrochenen Tradition der Zupfinstrumente, und andererseits stelle
ich mir das dunkle Mittelalter vor und Marco Polos Reise nach China,
in die Verbotene Stadt.“ Wie in seiner „Marco Polo“-Oper
wollte Tan damit in einer unsichtbaren historischen Vernetzung auf
das kulturelle Phänomen der Seidenstraße hinweisen. Aber
statt einer Bereicherung bewirkt diese Anhäufung programma-
tischer Ideen eine Überfrachtung. Die zunächst plausiblen
Weiterführungen solistischer Aktionen durch das Orchester werden
immer reichhaltiger, gefälliger und beliebiger. Es gibt faszinierende
Klänge wie die einer Glasharfe, dann aber vielfache Anspielungen
auf Klassiker der Orchesterliteratur, ohne dass die Fülle der
Stilzitate sich zu einem Ganzen fügt. Freimütig bekennt
der Komponist, es gebe keinen sichtbaren oder hörbaren Sinn,
„und doch ist alles miteinander verbunden“. Für
ihn haben sich die Grenzen, auch die zwischen den Gattungen, überlebt.
Obwohl sein neues Werk die simplen Popformeln seiner „World
Symphony for the Millenium“ (1999) meidet, wirkt es über
weite Strecken wie eine bunte Mischung ohne innere Konsequenz. Einheitsstiftendes
Moment von „Secret Land“ bleibt die Biografie des Komponisten,
der als Globetrotter überall zu Hause ist.
Das im vergangenen Juni uraufgeführte Stück passt zu
den Hörer-freundlichen Crossover-Tendenzen, denen sich die
Berliner Philharmoniker unter Simon Rattle verschrieben haben. Anders
als unter dem Nono-Freund Abbado wird die Avantgarde dabei fast
systematisch ausgespart. Um so wichtiger ist es, dass das im klassizistischen
Konzerthaus am Gendarmenmarkt beheimatete Berliner Sinfonie-Orchester
diesem Trend nicht folgt. Nur wenige Tage nach der Tan Dun-Uraufführung
spielte es unter Leitung des Komponisten ein neues Werk von Hans
Zender, das sich ebenfalls um einen westöstlichen Kulturdialog
bemüht, verwandte Grundimpulse aber folgerichtiger realisiert.
Tan hatte die Bewegung innerhalb eines Tones mit einer Kalligrafie
verglichen und als lebendigen Verlauf mit unbegrenzten Möglichkeiten
bezeichnet.
Kalligraph: Hans Zender
Zender beschäftigt sich seit Jahren mit asiatischer Kultur,
um zu einer neuen Offenheit des Hörens und zu neuartigen Formprozessen
zu kommen. In seinen 1998 begonnenen und inzwischen fünfteiligen
„Kalligraphien“ geht er von der Idee der Einstimmigkeit
aus, von Linien und sich fortsetzenden Impulsen. Dem Vorbild mittelalterlicher
Kalligrafen folgend schrieb er die Noten in einem Zug und ohne nachträgliche
Korrekturen nieder und kam damit zu neuartigen Formprozessen. Während
Tan vom Klang asiatischer Zupfinstrumente ausging, basiert Zenders
Komposition auf alten Mönchsgesängen, auf gregorianischen
Melodiemodellen, die mit weitaus größerer Konsequenz
verwendet werden. Melodiemodelle der Pfingst-Liturgie bearbeitete
der Komponist nach kanonischen und seriellen Prinzipien, wobei er
die temperierte Stimmung zur kaum noch wahrnehmbaren Dichte von
72 Zwölfteltönen erweiterte. Die Klangwelt der drei umgestimmten
Klaviere und Harfen, denen sich die übrigen Instrumente anglichen,
wirkte archaisch wie futuristisch zugleich. Obwohl von den gregorianischen
Wurzeln nichts mehr zu hören war, wirkte ihr Geist in den strengen
Formen nach.
Die beiden in Berlin uraufgeführten Stücke I und V bilden
den Rahmen des Zyklus, ihren Anfang und ihr Ziel. Wie bei „Secret
Land“ handelt es sich um eine spirituelle Reise, deren Stationen
durch Peitschenknall und Glocken sowie die für jedes Stück
individuelle Orchesterbesetzung signalisiert werden. Das erste Stück
beginnt mit harten Schlägen, die sich über das ganze Orchester
ausbreiten und zu farbigen Mixturklängen zunehmend weicher
und farbiger werden. Das Schlussstück erweitert sich nach einer
langsamen Einleitung zu flimmernder Fülle, nimmt dann härtere
Konturen an und wird zur massiven Isorhythmik, die zum Schluss nur
noch von Trompeten und Posaunen gespielt wird. Wo Tan Dun das Füllhorn
der Orchesterfarben allzu freigiebig und betörend einsetzt,
beharrt Zender auf dem Primat der Linie. Für 2009/10 bereitet
China ein „Jahr der deutschen Kultur“ vor. Neben Bach,
Beethoven, Goethe und Wagner sollte man dabei auch Zenders „Kalligraphien“
berücksichtigen.