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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 38
54. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Jähes Erwachen aus dem Rausch der Oper
„Kokain“ – Musiktheater von Steffen Schleiermacher
in der Bundeskunsthalle Bonn
Am Schluss verkriecht sich Tobias unter die Bettdecke. Licht aus.
Ende einer Drogenkarriere. „Kokain“, die zweite Musiktheater-Arbeit
des Leipziger Komponisten und Pianisten Steffen Schleiermacher,
protokolliert die letzten Stunden eines Suchtkranken. Die Musik
erzählt, wie es dem von der Droge Durchgerüttelten ergeht.
Bläser verschießen Signale, die sich zum zwölftönigen
Stimmengewebe verdichten: Nadelstiche von allen Seiten. Der Getroffene
reagiert mit stockendem Gesang. Das bohrende Verlangen nach der
Droge als chromatisch aufwärts hetzende Quintolen; die Schwerelosigkeit
im Rauschglück als vierstimmiger Chor mit gegeneinander verschobenen,
leeren Quinten.
Bettenlandschaft als Gräberfeld:
die Ehefrau (Liisa Viinanen) tanzt auf der Matratze. Foto:
Thilo Bleu/Theater Bonn
Entdeckt hat Schleiermacher seinen Stoff noch zu DDR-Zeiten in
der Auslage eines Buchladens: Walter Rheiner, „Kokain“.
Da musste man, so der Komponist, zugreifen! Erzählt wird der
körperlich-seelische Verfall des erfolglosen Poeten Tobias,
eines Drogenabhängigen, der Rheiner selbst war. 1925 setzt
er seinem Leben mit einer Überdosis ein Ende. Soweit so bedrückend.
Doch was geschieht, wenn daraus Musiktheater wird? Ein Fixer, der
sich auf der Bühne die Nadel setzt?
So hyper hat Regisseurin Barbara Beyer den Realismus zwar nicht
buchstabiert, an die Matratzengruft aber, in der sich Rheiner in
einer Berliner Absteige aus dem Leben stahl, insofern erinnert,
als sie sich die Bonner Forum-Bühne von ihrem Ausstatter (Frank-Tilmann
Otto) in eine Art Anstaltsschlafsaal hat verwandeln lassen: 27 Betten
in Dreierreihen, frisch und bunt bezogen, mit lustigen Nachttischlämpchen.
Ein Gräberfeld als finaler Austragungsort für eine Sterbeszene
in zwölf Tableaus. Tobias, seine Freundin (Daniela Strohmann),
seine Ehefrau (Liisa Viinanen) als spätere Prostituierte, Nachbarn.
Dazu hat Librettist Steffen Lüddemann einen Dealer kreiert,
den die Regie als affigen Showstar agieren lässt. Dass wir
in diesem Ekelpaket Tobias II (Holger Falk), das Alter Ego, die
„innere Stimme“ von Tobias I (Mark Rosenthal), vor uns
haben, erhellt freilich nicht das Bühnengeschehen, sondern
der Blick ins Programmheft.
Je quälender es aufs Ende zugeht, um so klarer wird, dass Regiekonzept
und Werkidee auf Kollisionskurs liegen. Ergebnis: Trümmerbruch.
Beyer hat versäumt, aus ihrer Not, weder Handlung noch Konflikte
vorzufinden, eine Tugend zu machen. Gesucht hat sie ihr Heil darin,
das Zeichenhafte dieses an den Grenzen zur Darstellbarkeit operierenden
Theaters wieder nach außen zu kehren. Schleiermacher wollte,
wie er in Anwesenheit der Regisseurin gestand, ein „Schattenspiel“.
Ihren Hauptdarsteller Mark Rosenthal, einen absolut glaubwürdigen
Darsteller dieser Verzweiflungsfigur, ließ Beyer wie ein Kaninchen
hoppeln, um dieses als leibhaftiges Hasenpärchen gleich mit
auf die Bühne zu schicken. Neckisch.
Dirigent Thomas Wise und 17 Instrumentalisten des Bonner Beethoven-Orchesters
erwiesen sich zu Schleiermachers Erleichterung als exzellente Übersetzer
einer Partitur, die polystilistisch alle Genres avancierter E-Musik
kennt und ausspielt: Orchestrales Pathos, lyrische Ekstase, Sprechgesang,
skurriler Vokalquartettsatz.
Was aber ist „Kokain“? Neues soziales Theater für
die Antidrogenkampagnen der Bundesgesundheitsministerin? Absurdes
Theater? Weder noch. In „Kokain“ begegnet radikales
Musiktheater, das seine Grundlagen angreift – Handlung, Konflikt,
Geschlechterspannung. Vorbei – wie die Liebe, an die sich
Tobias in einer bewegenden Arie, begleitet von einem ihm zur Seite
tretenden Geiger erinnert, als an die verlorene Utopie seines Lebens.
„Kokain“ ist Oper wie das Erwachen aus dem Rausch der
Oper.