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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 40
54. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Experiment, Elan, E-Gitarren, Elektronik
Rundfunk im Dienst avancierter künstlerischer Handschriften:
das „Forum neuer Musik“ in Köln
Experimentierfreude beim „Forum neuer Musik“ auch in
der Ausgabe 2005. Darin zehrt es noch unterm postmodern-neoliberalen
Zeitgeist von der Tradition künstlerischen Aufbruchwillens,
hält dessen Elan fest, bleibt zugleich reserviert gegenüber
Verengungen. Der Standard „kompositorischer Techniken“
sei, so Frank Kämpfer zum Auftakt des von ihm zum vierten Mal
kuratierten Märzfestivals im Deutschlandfunk-Sendesaal, „bekannt,
erlernbar, anwendbar, auch: ignorierbar“. Ignorierbar ist
jedenfalls nicht, dass der Deutschlandfunk Köln in Gestalt
des einzigartigen „Forum neuer Musik“ seinem Kulturauftrag
nachkommt – auch ohne große Namen, die Publikum und
Feuilleton über Verwerfungen hinwegtrösten könnten.
Statt neuer-alter Unübersichtlichkeit mit „stringenten“
Programmen entgegenzutreten, beharrte auch die Forum-Ausgabe 2005
auf der ihr eigenen Gratwanderung – mit bewegenden und verstörenden
Eindrücken. Zwei Porträtkonzerte, ein Klavier-Recital,
eine multimediale Performance beschrieben die differenten Bahnkoordinaten
und Fluchtgeschwindigkeiten von Kunstentwürfen nach dem Urknall
des Verbindlichkeitsverlustes.
Balanceakte auf der Tischkante
– „electronic music theatre“ der Künstlergruppe
„Arbeit“, Frankfurt am Main. Foto: Deutschlandfunk,
2005
Elektroklang wabert durch den Sendesaal. Vier Herren vollführen
einbeinige Balanceakte auf der Tischkante. Arme als Tragflächen.
Schlussbild einer Performance zwischen konkreter und synthetischer
Musik, Theater und Live-Hörspiel. „Jugend. Volume 1:
Freud“ schlagzeilten dazu ihre Urheber, die Frankfurter Künstlergruppe
„Arbeit“. Mit der Uraufführung ihres „electronic
music theatre“ hatten die in Takeoff-Position formierten Freudianer
Augst, Daemgen, Dézsy, Korn nicht nur ihr eigenes, höchst
eigenwilliges Projekt auf die Zielgerade geführt, vielmehr
dem „Forum neuer Musik 2005“ zu Festivalschluss noch
nachträglich sein Symbol geliefert: Aufbruchsmoment und Absturzgefahr
ganz nah beieinander – das Wagnis, ohne das kein Kunstentwurf
auskommt.
Identität. Was jeder will und wollen muss, wurde via sublimer
Pluralbildung mottobildendes Generalthema: „Identitäten“.
Nicht als Suchen in höheren Regionen, wo über allen Wipfeln
Ruhe ist. Im Gegenteil. Es war ein Wühlen in der Erde, ein
Sich-Verbeißen im Untergrund, in der Geschichte des eigenen
Selbst, im Verdrängten, im Verlorenen auch. Da wurde nach der
„Uhrzeit im Paradies“ gefragt (Sidney Corbett), da ging
der Blick zurück in die „verlorenen Kindertage“
(Iris ter Schiphorst), zum „Beat“ (Ralph van Raat),
zur „Jugend“ (Künstler-AG „Arbeit“),
die abhanden gekommen ist.
Dass indes manches am Überraschungscoup der „Arbeits“-AG
unverständlich blieb, stand auf einem anderen Blatt. Ein abgeschlossenes
(Frankfurter) Hochschulstudium, um die Höhe des Anspielungshorizonts
zu erreichen, war fürs Freud-Projekt durchaus hilfreich. Darin
unterscheidet sich Frankfurt beispielsweise von Gustav Mahler, dessen
„Ich bin der Welt abhanden gekommen“ neben anderen Erinnerungsstücken
ins elektronische Musiktheater untergepflügt wurde. Sublimer
Wehmutston: „Jugend“ ist vorbei, andererseits muss sie
irgendwie doch unser Sehnsuchtsziel bleiben.
Eine Spur, die im Klavierabend des jungen niederländischen
Pianisten Ralph van Raat, Jahrgang 1978, wiederkehrte. Überschrieben
war jener nämlich mit einem Topos verflossener musikalischer
Jugendkultur: „Beat“. Ironischer Gestus ohne tiefere
Bedeutung? Die erhabene Pianistik van Raats jedenfalls ignorierte
solchen Schalk. Andererseits: Der zwischen Bach und Louis Andriessen
aufgespannte Horizont zeitgenössischer holländischer Klaviermusik
mit Werken von Schat, Spaan, Kadar, van Roosendael, Franssens und
Vanessa Lann verblieb letztlich im Ephemeren. Nicht anders als der
„Beat“.
So musste das Neue am „Forum neuer Musik 2005“ in zwei
Porträtkonzerten gesucht und gefunden werden, wenngleich auch
hier die Eindrücke alles andere als einheitlich ausfielen:
Zur Enttäuschung geriet die mit Spannung erwartete Uraufführung
„Electric Guitar Concerto“ des US-amerikanischen Komponisten
Sidney Corbett. Nicht nur, dass die E-Gitarre in diesem Werk ihre
Herkunft aus der Rockmusik schlichtweg leugnete, das Spiel des Solisten
Seth Josel vermurmelte zusehends. Offenbar hatte das frühere
MusikFabrik-Mitglied ebenso wie seine Kollegen einen schlechten
Tag erwischt. Ungewohnte Koordinations- und Intonationsprobleme,
etwa im Ensemblestück „Die Stimmen der Wände“,
schienen zu signalisieren, dass sich das Landesensemble mit seinem
expressiven Musizierstil in der Melodienseligkeit Corbetts weder
wiederfinden konnte noch wollte. Jedenfalls blieb dessen Anspruch,
„an die Essenz dessen heranzukommen, was Musik ist und sein
kann“, durch die zu Gehör gebrachten Klänge uneingelöst.
In Corbett, der es für „arrogant“ befindet, die
„musikalische Sprache erweitern“ zu wollen, begegnete
an diesem Abend das Paradoxon eines Komponisten, der Musik so organisiert,
dass sie nicht komponiert klingt.
So war es an der Vierten im Bunde, an Iris ter Schiphorst, die
Dinge gerade zu rücken und den Kunstanspruch des Komponierens
mit einem fulminanten Wurf einzulösen. Als Auftragswerk des
Deutschlandfunks kam als Höhepunkt des „Forums neuer
Musik 2005“ ein Werk zur Uraufführung, in dem konkrete
Instrumentalklänge durchgängig verstärkt und durch
Zuspielbänder weiter angereichert und aufgeladen wurden. Neben
zwei Instrumentalensembles, (Ensemble 01, trio e-vent) agierten
und harmonierten E-Gitarre (Daniel Göritz), präpariertes
Klavier, Sampler, Flöte, Geige und Cello. Hier endlich klang
die E-Gitarre wie eine solche, ohne doch das Klanggewebe zu dominieren
oder gar aufzusprengen.
Indes schürfte auch ter Schiphorst im Autobiographischen.
„aus kindertagen: verloren“ streut in einen hochorganisierten
Ensemblesatz Kinderverse und Romanzitate („Geht das Zuhause
flöten, spielt das Töten“) – ein Verfahren,
dem die Hamburgerin auch in anderen Werken nachgeht wie etwa in
„...und Pommerland ist abgebrannt“ für drei mit
CD-Zuspiel ergänzte Bläser: Eine Komponistin findet ihr
Thema – Erwachsene Menschen begegnen erwachsenen Klängen.
Für die Gewinn- und Verlustrechnung des „Forum neuer
Musik 2005“ erwies sich dieses Porträtkonzert als eminenter
Glücksfall. An der exzellenten Interpretation eines so ausgetüftelten
Werkes wie „aus kindertagen: verloren“ hatten dabei
neben den ausübenden Musikern die DLF-Sendesaal-Techniker besonderen
Anteil: Rundfunk im Dienst avancierter künstlerischer Handschrift.
Und es gab – bevor es vergessen wird – noch ein Ergebnis:
Der (künstlerische) Zweifel an der Erweiterungsfähigkeit
wie -bedürftigkeit der musikalischen Sprache wurde (künstlerisch)
korrigiert. Es geht doch.