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Ausgabe 2005/04
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nmz 2005/04 | Seite 16
54. Jahrgang | April
Forum Musikpädagogik

Ohne Theorie wird auch aus guter Praxis keine Bildung

Musikunterricht in den USA – ein Blick auf den Ursprung unserer deutschen Ensembleklassen

Das Interesse am amerikanischen Musikunterricht wächst, verständlicherweise, denn das Konzept der Ensembleklassen, das in den letzten Jahren in die deutsche Musikpädagogik Einzug gehalten hat, stammt ursprünglich aus Amerika. Die so genannten „performing groups“ (Orchester, Bläserklasse, Chor) bestehen dort bereits seit fast 100 Jahren. Diese langjährige Erfahrung legt es nahe, sich einmal näher mit der Musikpädagogik der USA („music education“) zu beschäftigen und zu fragen, welche Erkenntnisse, Konzepte in Theorie und Praxis für eine Weiterentwicklung deutscher Klassenmusizierkonzepte nutzbar gemacht werden könnten.

Probe einer typischen Performance Group. Foto: Josefine Köhn

Probe einer typischen Performance Group. Foto: Josefine Köhn

Das soll nicht heißen, Ideen, die auf einem völlig anderen Verständnis von Musikunterricht basieren, unkritisch zu übertragen, sondern es gilt, unsere Tradition zu wahren und fremde Erfahrungen für unsere Überlegungen fruchtbar zu machen. Eine solche Perspektive führt unausweichlich zu einer Bewertung des anderen Systems hinsichtlich seiner Stärken und Schwächen – trotzdem soll der folgende Blick auf Amerika (der in diesem Rahmen natürlich nur eine Skizze bleiben kann) möglichst objektiv und offen gehalten sein, damit wir uns potenziellen Neuerungen nicht versperren.

Ausbildung und Erziehung sind nicht Bestandteil der amerikanischen Verfassung, das heißt die Bildungspolitik liegt vornehmlich in der Verantwortung der einzelnen Staaten. Diese wiederum sind aufgeteilt in viele voneinander unabhängige Schulbezirke („school districts“), die alle politisch selbstständig sind (ein „school district“ kann je nach Größe eine oder mehrere Schulen umfassen). Die Verwaltungsspitze eines „school districts“ – das „school board“ – ist eine direkt von den Einwohnern eines Wohnbezirks gewählte Kommission, deren Aufgabe vor allem darin liegt, die von den Einwohnern erhobenen Schulsteuern kosteneffektiv zu verwalten. Dabei gilt die Prämisse, die vom Staat festgelegten Mindestanforderungen von Lehr- und Lernzielen zu respektieren.

Da in Amerika – im Gegensatz zu Deutschland – die Gesamtschule die dominierende Schulform darstellt, wird lediglich in verschiedene Altersstufen unterteilt: „elementary school“ (1–5), „middle school“ (6–8) und „high school“ (9–12). Der Musikunterricht ist im Allgemeinen verpflichtend für die Klassen eins bis fünf und findet zunächst als „general music“ statt, dem deutschen „traditionellen“ Musikunterricht sehr ähnlich. Erst ab Klasse fünf beginnt – auf freiwilliger Basis – das Ensemblemusizieren, und zwar in kleinen homogenen Instrumentalgruppen.

Da die Schüler amerikanischer „performance groups“ keinen zusätzlichen Instrumentalunterricht bekommen, stellt der Gruppenunterricht in Klasse fünf die einzige Möglichkeit dar, das Instrument unter professioneller Anleitung zu erlernen (üblicherweise allerdings nicht unter der Leitung eines Instrumentalpädagogen, sondern des Schulmusikers). Kostenpflichtiger privater Einzelunterricht steht zwar grundsätzlich allen offen, wird aber aufgrund der geringen Anzahl von Musikschulen (die staatliche Musikschule existiert in Amerika nicht) und der zusätzlichen finanziellen Aufwendungen nur selten genutzt.
Ab Jahrgang sechs finden sich die Schüler in klassenübergreifenden Instrumental- beziehungsweise Vokalgruppen zusammen. Zu diesem Zeitpunkt setzt der uns bekannte, bis zum Schulabschluss freiwillige Ensembleunterricht ein („orchestra“, „band“ oder „choir“), der durch zusätzliche optionale Angebote wie „music technology“ (Musik und Computer) oder „exploratory music“ („traditioneller“ Musikunterricht) in der „middle school“ beziehungsweise Gitarre, Klavier und „humanities lectures“ in der „high school“ erweitert wird. Während der Musik- beziehungsweise Instrumentalunterricht in den Klassen eins bis sechs circa zwei- bis dreimal in der Woche für 30 bis 45 Minuten stattfindet, treffen sich ab Klasse sieben die Ensemblegruppen in der Regel jeden Tag für circa eine Schulstunde.1

Musikpädagogische Konzepte

Die oben genannte Verantwortung der „school boards“ gegenüber den Wählern in schulpolitischen Entscheidungen hat Konsequenzen für die Schulen: Die Effektivität des Unterrichts wird in der Regel an konkreten, sichtbaren Lernergebnissen gemessen, die im Fach Musik vermeintlich am besten durch regelmäßige Konzerte der Instrumental- und Chorgruppen einer Schule sowie durch die Teilnahme an regionalen Aufführungswettbewerben erreicht und dokumentiert werden können. Folglich liegt der Schwerpunkt im Musikunterricht vielerorts auf der Spieltechnik und dem Einüben und Präsentieren von Musikstücken. Schon seit Jahrzehnten wird dieser Performance-orientierte Ansatz in Amerika von Musikwissenschaftlern und -pädagogen aus den eigenen Reihen kritisiert. Bereits in den 50er-Jahren wurden im MEJ (Music Educators Journal) zahlreiche Artikel veröffentlicht, die darauf hinwiesen, dass ein zu sehr am Produkt orientierter Musikunterricht nicht zu musikalischem Verstehen führen könne. Mehrere Studien haben zudem bewiesen, dass musikalisches Lernen nur in geringem Maße stattfindet, wenn die traditionelle Probenarbeit keine anderen Inhalte wie Musiktheorie, Musikgeschichte et cetera mit einbezieht (vgl. DeTurk, 1988, Whitener 1983 und andere). Es wurden daraufhin mehrere Lösungsansätze entwickelt, die auf ein umfassenderes Lernen und damit auch auf die Entwicklung eines Musikverständnisses bei den Schülern abzielten. Ein Grundgedanke, auf dem mehrere dieser Lösungsansätze basieren, ist, dass vertieftes Musikverständnis („musical understanding“) und verbesserte Spielqualität nur durch einen Musikunterricht zu erreichen sind, der sich auf „musical concepts“ bezieht. „Concepts“ sind fundamentale musikalische Parameter wie Klang, Melodik, Rhythmus, Harmonik und Form. Musikstücke werden entsprechend ausgesucht, um die unterschiedliche Ausformung dieser Parameter zu exemplifizieren und Schülern ein Verstehen eben dieser Parameter und damit ein Verstehen von Musik zu ermöglichen.

Einen weiteren sehr einflussreichen Ansatz stellt die Idee des „comprehensive musicianship“ (übersetzt etwa: „umfassendes musikalisches Können“) dar, quasi ein interdisziplinärer Ensembleunterricht, der auch Theorie und Geschichte mit einbezieht. Sie bildete die Grundlage für einige wichtige Projekte wie zum Beispiel das „Contemporary Music Project“ (CMP), welches in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre als Gegenposition zum rein praktischen, aufführungsorientierten Musikunterricht entstand. Am traditionellen Ensembleunterricht wurde vor allem kritisiert, dass er zu sehr am Gruppenergebnis interessiert war und den Lernerfolg des einzelnen Schülers dem Zufall überließ (vgl. Mark, S. 163). Der Hauptgedanke des CMP dagegen war, dass jeder einzelne Schüler in seiner Musikalität gestärkt werden sollte, und zwar indem er in den drei grundlegenden musikalischen Rollen tätig wird: „analyzing“, „performing“ und „creating“ (Analysieren, Musizieren und Komponieren beziehungsweise Improvisieren). Im Konzept des „comprehensive musicianship“ werden die Schüler daher neben dem praktischen Instrumentalunterricht im Ensemble in Melodik, Harmonielehre, Stilkunde, Rhythmik, Formenlehre und dem geschichtlichen Entstehungskontext von Musik unterwiesen. Den Kern bildet jedoch weiterhin das praktische Musizieren.

Ein ähnliches Konzept entwickelte Robert Garofalo 1983 mit „Blueprint for band“. Auch hier steht die handelnde Auseinandersetzung mit dem Musikstück, das Musizieren, im Mittelpunkt, soll aber stets verknüpft werden mit a) dem Verstehen von musikalischen Strukturen, b) dem Wissen über Entstehungsgeschichte und Komponist und c) verschiedenen anderen musikalischen Umgangsweisen wie Hören, Analysieren, Komponieren, Improvisieren, Dirigieren, Arrangieren et cetera. Auch wenn dieser Ansatz mehr Zeit und Einsatz des Schülers und Lehrers erfordert, so zeigen Forschungsergebnisse doch, dass sich die Mühe hinsichtlich Spielqualität und musikalischem Verstehen lohnt (vgl. Whitener 1983, Culbert 1974).

Diese Erkenntnis manifestierte sich schließlich auch auf nationaler Ebene in den „National Standards“ (Richtlinien und Zielvorstellungen) von 1994, in denen Abstand genommen wurde vom Performance-Begriff als einem alleinigen „Singen und Musizieren“ und in denen die Ziele des Musikunterrichts daher um verschiedene musikalische Umgangsweisen sowie eine stärkere Einbindung von Reflexion und Musik anderer Kulturen erweitert wurden.2

Wenn man auf erläuterte und auch auf nicht genannte Entwicklungen der letzten Jahrzehnte der amerikanischen Musikpädagogik zurückblickt, so lassen sich drei Punkte abstrahieren, die stetig vorangetrieben und weiter ausgebaut wurden: a) Die Festigung des Faches Musik im Fächerkanon, b) ein musikalisches Angebot für alle, ohne Überschneidungen mit Pflichtkursen und c) das Musizieren als Basis zu erhalten, innerhalb eines Musikunterrichts, der auf umfassende musikalische Bildung abzielt.

Der Ensembleunterricht3

Den Kern bilden nach wie vor das Musizieren und die Arbeit am Lehrwerk „Standard of Excellence“ (Bläserklassen) sowie das Einüben einiger weniger, zusätzlicher Musikstücke, an denen die musikalischen Fähig- und Fertigkeiten („skills“) gefestigt beziehungsweise erweitert werden. An erster Stelle stehen hier die Spieltechnik, aber auch das rhythmische Empfinden sowie das Musizieren von Melodien mit angemessenem Ausdruck. Inwieweit darüber hinaus Musiktheorie und -geschichte integriert werden und ein Sprechen/Reflektieren über die Musik zustande kommt, ist abhängig vom Lehrer. Annäherungen an die Musik über das frontale Einüben hinaus wurden aber durchaus beobachtet. Viele Lehrer versuchen – trotz des immer noch existierenden Konzert- und Wettbewerbsdrucks – die in der Theorie und den Standards entwickelten Zielvorstellungen in der Praxis zu verfolgen.

Der Musikunterricht in Amerika ist vorwiegend praktisch ausgerichtet. Musiktheorie wird handlungsorientiert gelernt, ein Reflektieren über Musik nimmt jedoch immer noch wenig Raum ein. Einige amerikanische Musikpädagogen kritisieren daher, dass für eine befriedigende Teilnahme am kulturellen Musikleben nach der Schule die Fähigkeit zur Reflexion über Musik fehlt und (vielleicht aus diesem Grunde) viele Erwachsene nach ihrem Schulabschluss aufhören zu musizieren. Hier muss Ursachenforschung betrieben werden, damit die hohe Beteiligung in Musiziergruppen während der Schulzeit und die zum Teil erstaunlich hohe Qualität des Ensemblemusizierens auch für eine Stärkung des außerschulischen Musiklebens genutzt werden können. An diesen Stärken und Schwächen sollte die deutsche Musikpädagogik ansetzen, um Klassenmusizierkonzepte weiterzuentwickeln in Richtung eines Ensembleunterrichts, der im Sinne eines „comprehensive musicianship“ auf musikalischen Grundkompetenzen aufbaut und zu einer ästhetischen Wertschätzung hinführt.

Gitta Ammer

Ausgewählte Literatur
DeTurk, M.S.: The relationship between experience in performing music class and critical thinking about music. Unveröff. Diss. New York (Columbia University) 1988
Mark, Michael L.: Contemporary Music Education. New York (Schirmer Books) 31996
Garofalo, Robert J.: Blueprint for band. Fort Lauderdale (Meredith Music) 1983
Whitener, W.T.: Comparison of two approaches to teaching beginning band. Journal of Research in Music Education 31 (1) 1983, S. 5-13
Culbert, M.E.: The effects of using a portion of the rehearsal time for developing skills in describing music on the performance level and musical achievement of high school band students. Unveröff. Diss. Philadelphia (Temple University) 1974
Music Educators National Conference (Hg.): National Standards for Arts Education. What every young American should know and be able to do in the arts. Reston 1994


Anmerkungen
1 Aufgrund des bildungspolitischen Pluralismus kann jede Schule individuell über die Unterrichtszeit entscheiden. Das Gros der Schulen folgt jedoch dieser Stundentafel.
2 Größte Errungenschaft in diesem Zusammenhang war die Anerkennung der Künste als „core curricular subject“ (Kernfach) auf nationaler Ebene.
3 Die Erkenntnisse beziehen sich auf den von der Autorin beobachteten Unterricht an Schulen in Ann Arbor, Staat Michigan, in den Jahren 2002 und 2003

 

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