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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 14
54. Jahrgang | April
Gegengift
Gegengift
Sophies Welt
Als der Komponist Stockhausen vor gut drei Jahren den Einsturz
der „Twin-Towers“ scheinbar rein ästhetisch registrierte
und das erschütternde Ereignis nach den Vorgaben einer surrealistischen
Schockästhetik als großes „Happening“ in
sich aufnahm, da redete er sich damit beinahe um Kopf und Kragen.
Das heißt: Der Kopf blieb dran, es drohte nur der „soziale
Tod“ und der Verlust der Karriere. Ganze Konzertreihen wurden
abgesagt, viele wollten immer schon gewusst haben, was für
ein Wirrkopf dieser Stockhausen sei.
Meinungsfreiheit – schön und recht, aber wer einen
„Ruf“ (und mehr) zu verlieren hat, muss auch den rechten
Gebrauch von ihr machen: In bestimmten Situationen hilft nur noch
äußerste moralische Betroffenheit („Tausend Tränen
tief“, wie es bei Blumfeld heißt) und eine Bereitschaft
zur „infinite justice“, also das Zu-Klump-Bomben aller
Gegenden, wo man das „Böse“ auch nur vermuten kann.
Der „Krieg gegen den Terror“ ist zwar noch lange nicht
zu Ende. Aber die ästhetische Betrachtung politischer Wirklichkeit
scheint mittlerweile rehabilitiert. Der Verleih des Films „Sophie
Scholl“ von Marc Rothemund – „erzählt nach
bisher unveröffentlichten Originalprotokollen!“, wie
ein Insert knallig verspricht – jedenfalls wirbt selbst in
der FAZ („dahinter steckt immer ein kluger Kopf“) mit
Journalistenworten, die man im näheren Kontext von Kerker und
KZ bisher nicht unbedingt vermutet hatte. „Packend wie ein
Psycho-Thriller“, verspricht etwa die Hamburger Morgenpost
– und scheint dabei ganz zu vergessen, dass man ja schon weiß,
wie die Chose ausging. BILD, die dem Volk gern aufs Maul schaut,
sich vor allem für Persönliches interessiert und bekanntlich
den „Mut“ zwar gepachtet hat, gelegentlich aber großherzig
ein Stück abgibt, fasst das Ende der „Weißen Rose“
fast so zusammen wie einst Boris Beckers ersten Wimbledon-Sieg:
„Was für eine Frau! Was für eine Zivilcourage! Was
für ein Film!“ Noch näher kommt den Henkern und
ihrem Opfer lediglich der öffentlich-rechtliche ARD-Kulturreport,
der Sophie Scholls Schicksal dezent-metaphorisch so umschreibt:
„Dieser Film geht unter die Haut!“ Apropos Zivilcourage.
Dafür ist traditionell unser Bundespräsident zuständig
– und seit der Horst Köhler heißt (den sich immerhin
80 Prozent „unserer“ Führungskräfte als Kanzler
vorstellen können), geht es da besonders mutig zur Sache. „Sophie
Scholl“, das wissen alle, ist was für die Schulen. Tote
Helden sind gute Helden – und unsere Schüler können
sich ruhig eine Scheibe von ihnen abschneiden.
Freilich kann man sich auch leicht um Kopf und Kragen reden, nicht
nur in einem Gestapo-Verhörkeller, sondern auch beim „Ortstermin“
in einem Berliner Kino: „Es reicht nicht, nur zu lernen, was
damals geschah. Ihr müsst nachfragen.“ Aber bitte schön,
vergaß Köhler dummerweise hinzuzufügen, nicht vergleichen,
was man nicht vergleichen kann, etwa Bush mit Hitler (das macht
zur Frührentnerin) oder Bush mit Bin Ladin oder gar die „Weiße
Rose“ mit irgendwelchen „Widerstandsgruppen“ heutzutage.
Die Schüler, die noch nichts vom Ernst des Lebens und den
Fallstricken der Rhetorik wissen, fragten also nach. Und als sich
Köhler taub stellte, fragten sie nochmal nach. „Was tut
die Politik, um ähnliche Widerstandsgruppen in anderen Ländern
zu unterstützen?“ Das hängt ganz von der Geschäftsgrundlage
und der jeweiligen politischen Agenda beziehungsweise den Machtverhältnissen
ab. Deshalb ist natürlich eine Widerstandsgruppe im Kosovo
oder bei den Kurden (im Irak, einst) ganz anders zu beurteilen als
bei den Kurden (in der Türkei, jetzt) oder in China, wo bekanntlich
gute Kunden sitzen. Das sagte er aber nicht. Lieber betonte er,
dass in unserer „besten“ Verfassung ganz viel von den
Werten der Weißen Rose drinstecke.
„Don’t lie to the young“, besang einst Bob Dylan
das Essential jeder Erziehung. Lüg die jungen Leute nicht an
– und mach ihnen auch nichts vor. Diese ewige Gratis-Verehrung
von Gandhi und Sophie Scholl, diese Reduktion von Politik auf Charakterstärke,
kann rasch im Gestapo-Keller und auf dem Schafott enden. Lieber
sollte man den Kindern die hohe Kunst des Fliegenfangens beibringen:
Nur zuschlagen, wenn man sicher sein kann, dass man das Biest auch
trifft.