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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 4-6
54. Jahrgang | April
Magazin
Junge Rebellen und Konservative
Die neue Komponistengeneration in Polen · Von Daniel Cichy
Nach dem politisch-gesellschaftlichen Umbruch von 1989 haben sich
viele Lebensaspekte in Polen stark verändert. Zum Guten, wie
auch zum Schlechten. Die hohe Arbeitslosenzahl, Korruption und immer
neu aufgedeckte politische Affären erfüllen nicht gerade
mit Optimismus. Hinzu kommt, dass ein politisches Bewusstsein für
Kultur praktisch nicht existiert. Dennoch findet sich die junge
Generation der Komponisten und Musiker mit dieser neuen Situation
recht gut ab. Nach der kurzen Begeisterung über die offenen
Grenzen, nach den Besuchen internationaler Kompositionskurse, nach
der Enttäuschung über fehlende staatliche Unterstützung
konzentrierte sie sich in Warschau, Krakau, Kattowitz oder Breslau
auf das Eigentliche, die Musik. Das Resultat? Eine breite Palette
verschiedener ästhetischer Ansätze. Der folgende Text
präsentiert die aktuelle Szene der Neuen Musik in Polen vor
dem Hintergrund der Musikgeschichte der letzten fünf Jahrzehnte.
Zum Kontext
Die polnische Musik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
kann als eine Widerspiegelung der künstlerischen Umbrüche
verstanden werden, die sich in Europa vollzogen. Doch dieser Spiegel
war nicht ganz rein, der Schmutz der politischen Versklavung war
darauf zu sehen, berührten doch die Fangarme des Sozialismus
auch den Musikbereich. Die Anforderungen waren klar. Die Komponisten
sollten ihre Musik in Übereinstimmung mit den Richtlinien der
Ideologie des sozialistischen Realismus schreiben: klare Formen
ohne Klangexperimente, mög-lichst mit Elementen der Volksmusik
waren angesagt sowie Texte, die die „Güte“ des
Regimes sowie die Schönheit des Landes besingen und zu anstrengender
Arbeit motivieren sollten. Die folgenden Komponistengenerationen
spielten folglich mit den Organen der offiziellen Verwaltung Katz
und Maus, schmuggelten ab und zu neue Ideen ins Land, und wenn das
Spiel sie zu sehr ermüdete oder gefährlich wurde, wählten
einige Komponisten die Flucht in den Westen. Andere gingen in die
innere Emigration. Ähnlich wie manche Komponisten im Dritten
Reich versteckten sie ihre Werke in der Schublade, zogen sich in
den Schatten zurück, kämpften um das eigene Überleben,
komponierten U-Musik und warteten auf bessere Zeiten.
Die politisch-gesellschaftlichen Wirr-nisse, insbesondere der
Tod Stalins 1953, initiierten bedeutende Veränderungen im polnischen
Kunstverständnis. Die Tür nach Europa wurde einen Spalt
weit geöffnet und die Komponisten – Kazimierz Serocki
(1922–1981), Tadeusz Baird (1928–1981), Wlodzimierz
Kotonski (geb. 1925), Witold Szalonek (1927–2001) und jüngere
wie Boguslaw Schaeffer (geb. 1929), Wojciech Kilar (geb. 1932),
Henryk Mikolaj Gorecki (geb. 1933) und Krzysztof Penderecki (geb.
1933) – nahmen die Gelegenheit wahr, in den Westen zu reisen.
Mit der Ausreiseerlaubnis in der Hand fuhren sie am häufigsten
nach Deutschland, wo sie Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre zum
Beispiel die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik in
Darmstadt besuchten. Es stellte sich schnell heraus, dass die meisten
von ihnen die Grundlagen der seriellen und aleatorischen Musik nicht
zerstören wollten. Anders als ihre Professoren, die vom neoklassizistischen
Paris Nadia Boulangers begeistert waren – wie Boleslaw Woytowicz
(T. Baird, W. Szalonek, W. Kilar) oder Tadeusz Szeligowski (W. Kotonski)
–, faszinierte die Jungen die avantgardistische Ideologie.
Die neuen kompositorischen Mittel und die Lust auf Experimente verbanden
sie mit eigener Klangempfindsamkeit. Die polnische Neue Musik entwickelte
ihr eigenes Idiom. Die deutsche Kritik steckte den neu entstandenen
polnischen „Sonorismus“ in die Schublade „polnische
Komponistenschule“.
Anfang der 70er-Jahre, als nicht nur in Polen, sondern auch in
Europa ein deutlicher Überdruss am Neuen zu konstatieren war,
wandten sich die früheren Rebellen von ihren Experimenten ab,
um entweder auf eine radikale Weise ihre musikalische Sprache zu
vereinfachen und die religiös durchsättigten Emotionen
der Bevölkerung auszunutzen (Gorecki, Kilar) oder zum Pathos
der romantischen und neoromantischen Musik zurückzukehren (Penderecki).
Während sie diesen ästhetischen Umschwung beobachteten,
begann ein Teil der in den Fünfzigern geborenen Komponisten
eine Diskussion mit der progressiven Musik des Westens.
Dabei schätzten sie die musikalische Expression und das Jonglieren
mit den Elementen der Tradition höher als Komplexität
und Experiment. Rafal Augustyn (geb. 1951), Eugeniusz Knapik (geb.
1951), Andrzej Krzanowski (1951–1990), Aleksander Lason (geb.
1951), Pawel Szymanski (geb. 1954) und Tadeusz Wielecki (geb. 1954)
– jeder von ihnen ist/war bemüht, auf eigene Art seine
neuen ästhetischen Prioritäten zu definieren. Krzysztof
Knittel (geb. 1947), Elzbieta Sikora (geb. 1943) und Stanislaw Krupowicz
(geb. 1952) nutzen bis heute die elektronischen Medien aus, verbinden
sie mit Bühnenelementen, Schauspiel und Beleuchtung. Von der
alten Garde blieben nur Boguslaw Schaeffer und Witold Szalonek ihren
modernistischen Idealen treu, und ihre etwa zehn Jahre jüngeren
Kollegen Zygmunt Krauze (geb. 1938, „Unizismus“), Tomasz
Sikorski (1939-1988, polnische Art der Minimal Music), Marta Ptaszynska
(geb. 1943, farbenreiche Musik für Schlagzeug) und Krzysztof
Meyer (geb. 1943, der Architekt der großen Formen) formulierten
ihre eigene musikalische Sprache. Es kommt der polnischen Neuen
Musik sicherlich nicht zugute, dass ihr Image fast ausschließlich
von den Werken Pendereckis, Goreckis oder Kilars geprägt ist.
Obwohl die Musik dieser Herren eine allgemeine Wertschätzung
verdient und die Errungenschaften ihrer Jugendzeit ihnen den Platz
in den Musiklexika sichert, so trüben ihre heutigen Stücke
deutlich den Blick auf ihr früheres Lebenswerk. Die Leichtigkeit,
mit der sie mittels Affektiertheit der musikalischen Sprache, ästhetischem
Konjunkturalismus und Banalität im Ausdruck den Applaus der
Großen dieser Welt und des philharmonischen Publikums ernten,
ist erschreckend. Sie stehen in deutlicher Opposition zu jenem Meister
der polnischen Musik, der jenseits aller Stilrichtungen steht und
fast schon zu einem Denkmal geworden ist: zu dem Klassiker der Gegenwart
Witold Lutoslawski (1913–1994). Sein eleganter musikalischer
Gestus, sein raffinierter Geschmack sowie die unglaubliche Konsequenz
in der Suche nach der eigenen Ausdruckssprache machten ihn zu einer
Autorität, die weder nachgeahmt noch kritisiert werden darf.
Sein Lebenswerk stellt einen wichtigen Bezugspunkt für spätere
Generationen dar.
Neues kommt
Im Schatten dieses Klassikers der Gegenwart, im Hintergrund der
„Großen Dreieinigkeit“ und mit leiser Unterstützung
der mittleren Generation tauchen auf der Bühne der neuen polnischen
Musik immer mehr interessante junge Gestalten auf. Nach den an vielversprechenden
Debüts armen 1990er-Jahren sind mittlerweile wieder viele Komponisten
zu beobachten, die mutig ihren eigenen Weg suchen. Junge Menschen
machen von den nun offenen Grenzen Gebrauch, besuchen Europa, studieren
in Den Haag, Stuttgart, Köln, Paris und pfeifen auf historische
Einteilungen und ästhetische Vorurteile. Ohne Minderwertigkeitskomplexe
gegenüber „den besseren Kollegen aus dem Westen“
unternehmen sie den Versuch, eine unabhängige Musik auf Weltniveau
zu machen, was internationale Auszeichnungen bezeugen. Andrzej Chlopecki
– Musikkritiker und guter Geist für Neue Musik in Polen
– sagt: „Der Generationswechsel fand gleichzeitig mit
der Änderung der Wirklichkeit statt, mit der Freiheit und Lust,
sich von ästhetischen Dogmen, die Ende der 80er- und Anfang
der 90er-Jahre in Polen herrschten, zu befreien. Diese Aufbruchstimmung
führte die jungen Leute zu einem Eklektizismus im positiven
Sinne, einem Eklektizismus, der nicht alles auf einen gemeinsamen
Nenner bringen wollte, wie etwa in den 70er-Jahren, als eine Negation
des Fortschritts und modernistische Tendenzen vorherrschten. Heute
nehmen die Jungen an deutscher, holländischer, englischer oder
französischer Musik teil. Und noch etwas: Polnische Komponisten
sind heute gefragte Partner für Kollegen aus der ganze Welt.“
Doch diese Frischzellenkur entfaltete ihre Wirkung nicht nur im
kompositorischen Kreis. In den letzten Jahren machten auch viele
talentierte junge Musiker auf sich aufmerksam, die den Mangel an
Interpreten für Neue Musik beobachteten. Sie unterstützten
die Komponistenkollegen aus den Musikhochschulen während diverser
Musikfestivals: Fast schon zu Markennamen haben sich in diesem Zusammenhang
unter anderem das Orkiestra Muzyki Nowej in Kattowitz, das Orchester
Aukso in Tychy, das Ensemble Kwartludium in Warschau oder der Pianist
Maciej Grzybowski entwickelt.
Eine Hauptplattform für Neue Musik in Polen darf hier nicht
vergessen werden: Das Festival Warschauer Herbst, 1956 gegründet
und sehr rasch gewachsen, war für Komponisten aus dem Ostblock
lange Zeit das einzige Fenster zur internationalen Musikszene, da
hier wichtige Werke des 20. Jahrhunderts präsentiert wurden.
Der Warschauer Herbst war eine Enklave origineller Ereignisse, ein
Barometer für neueste Trends in der zeitgenössischen Musik.
Die Popularität des Festivals war einigen Schwankungen unterworfen,
die größte Krise erlebte es aber Mitte der 80er- bis
Mitte der 90er-Jahre. Es schien, als bräuchte man nach der
politischen Wende kein Musikfestival mehr, das eine derart symbolische
und nostalgische Rolle spielte. Auch das Publikum zeigte weniger
Interesse. Dennoch haben Krzysztof Knittel und jetzt Tadeusz Wielecki
die Veranstaltung vor dem völligem Desaster gerettet und dem
Warschauer Herbst ein anderes Gesicht gegeben. Heute besucht ein
ganz neues Publikum das Festival. Ein Publikum, das großes
Interesse für Neue Musik hat. Aber auch die Konzertorte änderten
sich. Die Veranstaltungen finden weniger in den Konzertsälen
oder in der Philharmonie statt, sondern zunehmend in leerstehenden
Industriegebäuden des Warschauer Stadtteils Praga.
Und noch ein Kennzeichen für den Wandel ist zu beobachten:
Es gibt inzwischen eine junge Generation von Autoren, die über
zeitgenössische Musik schreibt. Die Stimme der jungen Kritik
ist in Fachzeitschriften und großen Tageszeitungen, in Wochenblättern,
aber auch im Polnischen Rundfunk zu hören. Obwohl sie ihre
Wurzeln zum Teil in der universitären Ausbildung hat, pocht
sie vehement darauf, dass die Musikwissenschaft keine Musikpathologie
ist. Sie beschäftigt sich also mit den Werken lebender Komponisten
und kämpft dafür, dass Neue Musik im Vorlesungsverzeichnis
mehr Gewicht bekommt.
Nicht nur die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen,
der subkutane Wille zu kämpfen, nicht nur die Fähigkeit,
klare Sätze zu formulieren, und nicht nur das große Vertrauen
des Direktors des Warschauer Herbstes in die historische Notwendigkeit
des Generationenwechsels begünstigte diese explosionsartige
Zunahme der Aktivitäten junger Künstler und Publizisten.
Ein Impuls für Künstler sind immer auch Kompositionsaufträge.
Eine große Rolle bei der Entstehung des Neuen spielte die
Ernst von Siemens Musikstiftung mit dem Projekt „Förderpreise
Polen“. Andrzej Chlopecki – einer Hauptfigur in der
Neuen Musik Polens – wurde für den Zeitraum von 2001
bis 2004 eine Summe von 200.000 D-Mark für Kompositionsaufträge
und Musikerhonorare zur Verfügung gestellt. In diesen vier
Jahren bestellte Chlopecki Werke bei 32 jungen Komponisten. Und
er erweiterte das Projekt auf andere Länder wie Litauen, Lettland,
die Ukraine, Estland, Tschechien, die Slowakei, Rumänien, Ungarn,
Bulgarien und Slowenien.
Um das Panorama der jungen polnischen Musik deutlicher zu sehen,
ist es sinnvoll, sich auf einige wichtige Musikhochschulen zu konzentrieren.
Um sie und um die dort lehrenden Professoren versammeln sich die
jungen Komponisten. Die Gefahr einer möglichen Vereinfachung
in Kauf nehmend seien hier – nach geografischen Kriterien
geordnet – einige Namen ausgewählt, die schon eine feste
Position auf der Bühne der modernen Musik haben.
Warschau
Unsere Reise beginnt in Warschau, einer Hauptstadt, die sich sehr
dynamisch entwickelt, eine echte Metropole mit hektischem Leben,
großem Geld in Büro-Wolkenkratzern, exklusiven Geschäften
und allen kulturellen Kennzeichen einer modernen Großstadt.
Trotz dieser pulsierenden Atmosphäre auf den Straßen
kann das Gros der Studenten der Musikhochschule „Fryderyk
Chopin“ in Warschau die Ästhetik ihrer Dozenten jedoch
nicht hinter sich lassen. Gefangen genommen von konservativer Harmonie
und dem Primat der schönen Melodie, leiden die Studenten an
den komplexen Hörherausforderungen der Neuen Musik auf dem
Warschauer Herbst. Sie kritisieren ästhetische Vorschläge
während des Festivals und haben gleichzeitig Angst davor, ihre
Nase aus der Akademie herauszustrecken. Daher nahm es nicht wunder,
dass Pawel Mykietyn (geb. 1971), ein Wunderkind der 90-Jahre, als
erfrischende Ausnahme empfunden wurde.
Der Komponist Pawel Mykietyn.
Foto: „Zorka Project“
Als Zögling von Wlodzimierz Kotonski, der seine Schüler
gerne in den Westen schickte, ist Mykietyn ein Postmodernist par
excellence. „Für mich war klassische Musik – insbesondere
von polnischen Komponisten wie Tomasz Sikorski, Lutoslawski, aber
auch Beethoven, genauso wichtig wie populäre Musikkultur, zum
Beispiel von Jimi Hendrix, John Lennon, Czeslaw Niemen oder Punkrock
überhaupt. Diese Teilung in ,Darmstadt‘ und ,Woodstock‘
im 20. Jahrhundert ist künstlich“ – sagt Mykietyn.
Obwohl er aufgrund seiner Ästhetik ein Sohn Pawel Szymanskis
genannt wird, entwickelte Mykietyn eine eigene Musiksprache. In
seinen Werken treffen sich klare Formen, fast klassisch klingende
Motive, freie Figurationen und strenge melodische Figuren; seine
Musik birgt Erinnerungen an die Dur-Moll-Tonalität, sich ins
Dissonante zuspitzende Akkorde sowie Mikrotonalität, vorhersehbare,
scharfe rhythmische Schemata und aggressive, wilde Klanggestalten.
„In der letzten Zeit habe ich mich auf die harmonische Suche
konzentriert. Trotzdem ist für mich die Proportion zwischen
auskomponierten Elementen und Spontaneität immer wichtiger.
Die Musik muss mich selbst überraschen, die Zuhörer sollen
aber Klangeffekte und die besondere musikalische Dramaturgie, die
ich auch mit theatralischer Dramaturgie verbinde, bemerken.“
Schön klingende Musik und Echos aus der Vergangenheit interessieren
viele junge Zuhörer. Seine „3 for 13“ für
13 Instrumente (1994), „Shakespeare’s Sonnets“
für hohen Countertenor und Klavier (2000) und „An Album
Leaf“ für Violoncello und Tonband (2002) erreichten Schlagerstatus.
Zehn Jahre jünger als Mykietyn ist Adam Falkiewicz (geb. 1981):
Seine ersten Schritte machte er mit Wlodzimierz Kotonski in Warschau,
später studierte er bei Louis Andriessen und Martijn Padding.
Im IRCAM arbeitete er mit Brian Ferneyhough, Jonathan Harvey und
Tristan Murail. Von den Holländern lieh er sich Leichtigkeit,
fließende Erzählung, postmodernistische Flirts mit der
U-Musik und Verständlichkeit aus; von Ferneyhough nimmt Falkiewicz
klare und ziselierte Strukturen; von Spektralisten die Methoden
ihrer Klanganalyse. Eines seiner besten Stücke – „Canto
to Ezra Pound“ (ein Auftrag der Siemens Musikstiftung) –
versetzt den Zuhörer von Beginn an in Trance. In der elektronischen
„Altitude 4810“ darf man breiten Atem und expressive
Perspektiven fühlen. Tiefe, ganz ruhige Klänge bilden
eine metaphysische und geheimnisvolle Aura. Anders bei „Fearful
Symmetry“: Diese Musik ist pausenlos im Fluss, aber in einer
verkrüppelten Bewegung, mit gebrochenem Rhythmus und energetischem
Potenzial.
Bevor wir uns den Komponisten Krakaus widmen, wenden wir uns Aleksandra
Gryka (geb. 1977) zu. Sie stammt aus Warschau, studierte aber in
Krakau. Gryka ist eine ausdrucksstarke Persönlichkeit. Mykietyn
und Falkiewicz komponieren Musik, die – wenn auch mit persönlichen
Elementen – von Vorgängern geprägt ist. Gryka dagegen
versucht, autonome Werke zu schreiben. Obwohl die Schülerin
von Krystyna Moszumanska-Nazar (geb. 1924) noch nicht ganz ihre
charakteristische Sprache ausgebildet hat, kann man in ihrer Musik
eine Sorgfalt fürs Detail in Struktur und Klang beobachten.
Sie bildet kompakte, durchdachte, handwerklich tadellose Werke.
Ihren Hang zu trockenen, fast primitiven und abstoßenden Klangfarben
findet man in „LIEN-AL“ für Violoncello, Akkordeon
und Cembalo. „(1") exists as... (-1")“ für
fünf Instrumente ist ein Spiel mit Kontrasten: Die statische
und lyrische Erzählung verwandelt sich in eine dynamische und
motorische Erzählung. „Interialcell“ für Ensemble
– auch ein Kompositionsauftrag der Ernst von Siemens Musikstiftung
– fällt durch ihre verdichtete Form auf. Ihr Ausgangpunkt,
ein Klang, der sich in einen Bund akustischer Linien spaltet, wird
immer aggressiver. Die Akkorde wandern im Raum und wechseln dabei
ihre Tonhöhe.
Krakau
Innerhalb des stark traditionell geprägten Kulturlebens Krakaus
spielt die Musikhochschule die Rolle eines Schnittpunkts verschiedener
ästhetischer Strömungen. Marek Choloniewski (geb. 1953)
repräsentiert seit Jahren den Bereich der progressiven Audio-Art.
Interessanterweise bleiben jedoch viele junge Komponisten nach ihren
ersten Versuchen und Erfahrungen in der Welt der elektronischen
Musik weiterhin traditionellen Ausdrucksmitteln verhaftet. Die Mehrzahl
der aus der Klasse des Penderecki-Schülers Marek Stachowski
(1936-2004) stammenden Studenten arbeitet mit Orchester und Stimme.
Stachowski selbst durchlief einen langen Weg von fantastischen „sonoristischen“
Experimenten bis hin zu melodischer Reflexion. Als Pädagoge
sagte er immer: „Man soll die Jungen nicht stören…“
Seine Nachfolger – Wojciech Widlak (geb. 1971), Marcel Chyrzynski
(geb. 1971), Maciej Jablonski (geb. 1974), Wojciech Ziemowit Zych
(geb. 1976) – leben unter diesem Diktum sehr gut.
Seit 2000 indes beobachtet man in der musikalischen Sprache Wojciech
Widlaks eine Hinwendung zu einer verfeinerten Musik, in der Intellektualität
und Abstraktion eine große Rolle spielen. Im durchbrochenen
„Shortly on Line“ für fünf Musiker schickt
uns der Komponist einen klanglichen Impuls, den wir aufnehmen und
entwickeln sollen. In „Chromatic Fantasy“ für Cembalo
und „Into the Earth“ für Orchester und Orgel steht
zu Beginn ein Klang, der eine integrierende Funktion für die
Form darstellt.
Wojciech Ziemowit Zych ist zweifellos ein intellektueller Komponist.
Seine Werke sind schwierig, mit kompliziertem musikalischen Inhalt.
Er kokettiert nicht, er braucht keinen Applaus. Zych will vielmehr
überraschen und irreführen als augenzwinkern und streicheln.
Wenn ein Zuhörer durch dicke Schichten des verdichteten Materials
dringt, entdeckt er unbekannte Welten. Gelangt er einmal zu höherer
intellektueller Erkenntnis, wird er von einer Materie vereinnahmt,
die so dicht ist, dass sie sich in den Verstand hineinbohrt. Wie
im geheimnisvollen „SOLILOKWIUM II – A Landscape of
Frozen Thoughts“ für Bassklarinette und Streicher im
wuselnden, aber nicht chaotischen „Mille coqs blessés
à mort“ für Kammerensemble oder in der bereits
sehr reif wirkenden „Sinfonie“ für Orchester.
Kattowitz
Die Musikhochschule „Karol Szymanowski“ im 100 Kilometer
westlich von Krakau gelegenen Kattowitz hat Komponisten wie Gorecki,
Szalonek oder Krzanowski hervorgebracht. Ihr derzeitiger Rektor,
Eugeniusz Knapik, ist ein Komponist, dessen Musik einen Stempel
der Neoromantik trägt und von Abneigung gegen die Ästhetik
der Zweiten Avantgarde geprägt ist. Unter seiner und Aleksander
Lasons Obhut entwickeln sich junge Komponisten, die Musik mit breitem
emotionalem Gestus, auf der melodischen und harmonischen Basis von
Vorbildern wie Gustav Mahler, Richard Strauss und Olivier Messiaen
schreiben. Als Beispiele können die Werke von Jaroslaw Chelmecki
(geb. 1978) – „Et homo factus est“ für Solostimme,
Chor und zwei Klaviere oder frühere Stücke von Jakub Sarwas
(geb. 1977) – „...quia fortis est ut mors dilectio dura
sicut inferus aemulatio…“ für Frauenstimme, Orchester
und Tonband gelten. Für eine fast klassische Form und expressionistische
Musiksprache steht Aleksander Nowak (geb. 1979). Sein Klaviertrio
und seine „Sonata“ für Geige und Klavier enthalten
handwerklich gut gearbeitete Musik, aber kaum frische Ideen.
Breslau
Anders sieht die Situation in Breslau aus, einem der dynamischeren
Musikzentren in Polen, mit dem interessanten Festival Musica Polonica
Nova. Dessen Kreis ist ganz offen, die Zusammenarbeit mit anderen
Künstlern wird ausdrücklich gesucht. Die Aktivitäten
der dortigen jungen Komponisten und Musiker werden von den Professoren
der Musikhochschule „Karol Lipinski“ Jan Wichrowski
(geb. 1942), Grazyna Pstrokonska-Nawratil (geb. 1947) und Stanislaw
Krupowicz (geb. 1952) unterstützt.
Konzertiert am Laptop: Cezary
Duchnowski. Foto: Tomasz Kulak
Die Reihe der Komponisten aus Breslau eröffnet Cezary Duchnowski
(geb. 1971). In seinen Werken verbindet er unbegrenzte musikalische
Fantasie mit den vielfältigen Klangmöglichkeiten des Computers.
„Der Computer ist für mich ein neues Instrument, aber
ein ganz anderes, als die, die wir schon kennen. Er gibt uns unheimliches
Potenzial bei der Suche neuer Qualität in der Musik, sowohl
im Klangbereich, ebenso in der Materialorganisation. Mit seiner
Hilfe kann man zum Kern der Musik kommen, zum Klang überhaupt.
Wobei die technologischen Entwicklungen und Möglichkeiten bei
der Klangerzeugung nur das Mittel sein sollten, nicht das Ziel wie
in den 50er-Jahren.“ Duchnowskis Musik ist hochemotional und
entbehrt nicht einer gewissen Tiefe, seine Dramaturgie ist meist
ungewöhnlich, seine besondere Vorliebe für Klangfarben
überzeugt.
Der Zyklus „Monaden“ ist eine Art Tagebuch eines Entdeckers
neuer Ausdrucksmittel. Duchnowski beschreibt darin ein langsames
Eindringen in die monadische Klangstruktur, analysiert sie, betrachtet
sie von allen Seiten und versucht, ihr Wesen zu berühren. Er
beruft sich bei seiner ästhetischen Entscheidung auf Leibniz
und seine Theorie von der Monade als einer immateriellen Substanz,
die von Homogenität, Individualität und Spontaneität
gekennzeichnet ist. „Die wichtigsten Elemente in meiner Musik
sind die Formen, die nicht schablonenhaft sind, sondern immer neu
definiert, so wie der Klang. Gerade schreibe ich Werke, bei denen
man alle Elemente mathematischen Proportionen unterordnen kann.
Ich denke, dass diese Lösung die poetischste aller Möglichkeiten
ist. Sie entkleidet das Stück nicht von Abstraktion und Universum.“
Seine „Monade 3“ erhielt 2004 einen ersten Preis beim
„Tribune Electroacoustic Music“ durch den Internationalen
Musikrat der UNESCO in Rom.
Agata Zubel. Foto: Tomasz
Kulak
Duchnowski bevorzugt die Stimme. Das expressive Potenzial dieses
„Instruments“ deckt sehr oft Agata Zubel ab (geb. 1978),
mit der Duchnowski zusammenarbeitet. Zubel, die vor ein paar Monaten
den Preis „Pass“ des Wochenblatts „Polityka“
erhielt, ist nicht nur eine gute Sängerin, sondern auch Komponistin.
In ihrer Musik benutzt sie gerne Schlagzeug sowie – naheliegenderweise
– vokale Elemente. Im Bereich der Perkussion wird sie von
den breiten Farbpaletten und den klanglichen Möglichkeiten,
welche sie beim Konstruieren verschiedenartiger Fakturen anwenden
kann, verführt („Lumière pour percussion solo“,
„Re-Cycle“). Sie ist immer auf der Suche nach neuen
Vokaltechniken und Ausdrucksmöglichkeiten („Parlando“,
„Unisono I“, „Unisono II“).
Die Werke von Marcin Bortnowski (geb. 1972) sind, das ist sofort
spürbar, Beispiele einer sehr geordneten Musik. Klangblöcke
fügt er mit den Regeln des Kontrasts aneinander, er wiederholt
auch nahezu gleiche Figuren mit kleinen Abweichungen („Music
in Lent“ für Akkordeon und Streichquartett, „Pieces
of Light“ für Akkordeon, Cembalo und Computer). Oder
er geht flüssig durch verschiedene Elemente mit strukturellen
und ausdrucksstarken Elisionen („I Sinfonie“ für
Orchester). Sehr oft nach den stürmischen, quasi-polyphonen
Sequenzen – wie in „White Angels“ für Streichensemble
– überrascht er durch beinahe modale, rohe Melodien.
Ein anderes Mal bringt er die ausdrucksbetonten Abschnitte mit überbordender
Energie auf einen gemeinsamen Nenner, auf einen nicht selten in
mehreren Instrumenten vervielfachten Klang.
Der jüngste Komponist aus Breslau ist Slawomir Kupczak (geb.
1979). Seine Kompositionen für elektronische oder traditionelle
Medien zeichnen sich durch eine Abstraktion des Klangs und des Ausdrucks
aus („Akwaforta“ für Frauenstimme, Okarine, Flöte,
Tonband und Computer). Auch Repetitionen und das Spielen mit musikalischen
Erinnerungen fehlen nicht. Postmodernistisches Gelächter kann
man in „Palimpsest“ für Streichorchester und Tonband
hören, wo der Künstler ironisch Volksmusikmotive aufruft,
die häufig von Komponisten der älteren Generation benutzt
werden. In „Anafora IV“ für Tonband scheint oft
ein Stück einer Orchesterkadenz auf und in „Rymowanki“
für Marimba und Streichensemble betont der Komponist noch einmal
die Repetitionen. Die hier scheinbar einfachen Figuren fügt
er jedoch in einen polyphonen rhythmischen Kontext. Eines der reifsten
Werke Kupczaks ist „Anafora V“ für Violoncello
und Elektronik – mit einer reichen Farbpalette und einer spannenden
Dramaturgie.
Noch einen Namen sollte man nicht vergessen: Michal Talma-Sutt
(geb. 1969). Nach seinem Kompositionsstudium bei Jerzy Bauer (geb.
1936) kam er mit Stipendien zum IRCAM nach Paris und an die Musikhochschule
Stuttgart. Zweimal bekam er Auszeichnungen vom Internationalen Musikrat
der UNESCO im Rahmen des „Tribune Electroacoustic Music“.
Talma-Sutt ist einer der seltenen Künstler, die vom Geist des
Postmodernismus unberührt geblieben sind. Er vertraut eher
modernistischen Idealen. Vom Verzicht aufs populäre Augenzwinkern
und dem Widerstehen der Versuchung, ein musikalisches Palimpsest
zu schreiben, zeugen nicht nur das künstlerische Medium, sondern
auch die gewählte Ästhetik. Das lauteste Manifest seiner
kompositorischen Position ist „Cellotronicum“ für
Violoncello und Elektronik, eines der besten polnischen Werke der
vergangenen Jahre. In seinem Schaffen benutzt Talma-Sutt vor allem
den Computer: einerseits als ein Musikinstrument mit interessanten
klanglichen Möglichkeiten („Soundscape One“), andererseits
als ein Werkzeug, mit dem die Interaktion zwischen natürlichen
und elektronischen Klängen möglich ist („Avalon’s
Gates“, „Cellotronicum“). Seine Musik ist immer
erzählend, dynamisch, raffiniert, mit spannendem Farbenspiel
und stets voller Überraschungen. Mit unterschiedlichen Elementen
gestaltet Talma-Sutt quasi Mosaike, in denen ein bewusster Zuhörer
interessante musikalische Anmerkungen und ästhetische Reminiszenzen
wiedererkennt („What Nostradamus has kept only for himself“).
Diese Übersicht ist leider unvollständig, selektiv und
subjektiv. Sie führt aber zu der Erkenntnis, dass die Musikszene
in Polen nicht unter Langeweile leidet. Eine derart breite Palette
von ästhetischen Positionen gab es in Polen seit Jahren nicht.
Es lohnt sich, Musik kennen zu lernen, die von jungen Menschen geschaffen
wird, und ihre Frische, Kühnheit, Unabhängigkeit, aber
auch ihre Wertschätzung für die Tradition zu genießen.
Daniel Cichy
Radio-Tipp
28. April 2005
20 Uhr bis 21.30 Uhr, MDR Figaro
Aktuelle Musikszene: Polen
Eine Sendung von Meret Forster und Daniel Cichy (Eine CD dieser
Sendung kann ab Mai 2005 bei der nmz-Redaktion bestellt werden.)