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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 7
54. Jahrgang | April
Magazin
Netzwerke für musikalische Bildung
Musikschule als Kooperationspartnerin der Ganztagsschule
„Ganztagsschule“ – Zauberwort Pisa-geschädigter
Bildungspolitiker/-innen, die sich mit Blick auf ausländische
Erfolgsmodelle von der Ausweitung schulischer Unterrichtsangebote
auf den Nachmittag deutliche Leistungssteigerungen und einen merklichen
Kompetenzzuwachs bei deutschen Schülern und Schülerinnen
versprechen. „Ganztagsschule“ – Reizwort für
außerschulische Anbieter von Bildungsleistungen, die sich
nicht zu Unrecht in ihrer Existenz bedroht sehen, wenn „Schulzeit“
noch stärker als bis-her „Freizeit“ zur selbst
bestimmten Gestaltung nach persönlicher Interessenlage beschneidet.
Dies betrifft etwa Sportvereine im gleichen Maße wie Laientheatergruppen,
Angebote in künstlerisch-bildnerischen Bereichen ebenso wie
Musikschulen, die bei ihren Schülerinnen und Schülern
nicht nur die wöchentliche Unterrichtsstunde, sondern darüber
hinaus Zeit fürs tägliche Üben und für die Mitwirkung
in Ensembles „unterbringen“ müssen.
Keine Chance also angesichts der Tatsache, dass der Bund und die
meisten Länder ihren politischen Willensbekundungen zur verstärkten
Einführung der Ganztagsschule inzwischen vielerorts Taten folgen
ließen?
Der Verband deutscher Musikschulen VdM auf Bund- und Länderebene
sowie seine Mitgliedschulen in den Kommunen und Regionen vor Ort
sind, bei allem Problembewusstsein, anderer Meinung. Sie setzen
auf Kooperation mit den allgemein bildenden Schulen und Netzwerkbildung
innerhalb der außerschulischen Musikkultur. Basis für
diese Haltung ist die feste Überzeugung von der gesellschaftlichen
Bedeutung von Musik und Musikerziehung. Diesen Kulturbereich nachhaltig
und breitenwirksam zu fördern, ist umso effektiver möglich,
je enger der Zusammenhalt aller beteiligten Institutionen ist. Gerade
Musikschule und allgemein bildende Schule können sich in ihren
spezifischen Aufgabenstellungen dabei sinnvoll ergänzen.
Unter staatlicher Aufsicht
Die allgemein bildende Schule ist eine Pflichtschule, deren kostenloser
Unterricht alle Kinder eines von der Interessenlage meist sehr heterogenen
Altersjahrganges erreicht. Sie steht laut Grundgesetz unter staatlicher
Aufsicht. Musikunterricht ist, abgesehen von besonderen Projekten
und AG-Angeboten, Klassenunterricht und ein Fach neben vielen anderen.
Die allgemein bildende Schule hat ihre Aufgabe in einer generellen
Musikalisierung, der zunächst voraussetzungslosen Beschäftigung
mit allgemeinen Fragen der Musik zur Heranbildung von mündigen
Konsumenten.
Die öffentliche Musikschule ist grundsätzlich offen
für alle, die durch das Erlernen eines Instruments oder die
Ausbildung ihrer Stimme zu praktischer eigener Musikausübung
befähigt werden wollen. Sie wendet sich unter anderem mit ihren
Angeboten der Musikalischen Früherziehung für Vier- bis
Sechsjährige und vielerorts auch schon für jüngere
Kinder ab zwei Jahren (mit ihren Eltern) an das für eine Musikalisierung
besonders aufnahmebereite Vorschulalter. Sie unterrichtet neben
Schulkindern und Jugendlichen aber auch Erwachsene, die ihre im
Kindesalter erworbenen musikalischen Fähigkeiten vertiefen
oder ihren Jugendtraum vom Musizieren erstmals verwirklichen möchten.
Viele Musikschulen bieten speziellen oder auch integrativen Unterricht
für Behinderte an. Als kostenpflichtige Angebotsschule unterrichtet
die Musikschule damit besonders Interessierte und Motivierte, hat
ihre Schwerpunkte in der Vermittlung von Fähigkeiten zur praktischen
Musikausübung – entsprechend den Anlagen der Schüler/
-innen – und bereitet auch auf ein Musikstudium vor.
Musikschule und allgemein bildende Schulen ergänzen einander
also in ihren Tätigkeitsbereichen. Sie sind keine Konkurrenten,
sondern sie haben eine gemeinsame Verantwortung für die musikalische
Förderung von Kindern und Jugendlichen. Öffentliche Musikschulen
mit ihrem verbindlichen Strukturplan, ihrer durch Rahmenlehrpläne
und Fachlehrkräfte garantierten Unterrichtsqualität und
ihrer breit gefächerten Angebotspalette an musikalischen Unterrichtsfächern
sind kompetente und zuverlässige Kooperationspartner für
die allgemein bildende Schule. Nun ist der Kooperationsgedanke für
Musikschulen nicht neu, sondern vielerorts – zum Teil bereits
jahrzehntelange – Tradition, nicht nur auf Verbandsebene.
Hauptpartner der Musikschulen vor Ort ist dabei die Grundschule,
in einigem Abstand gefolgt vom Gymnasium, wo die Musikschule überwiegend
in der Sekundarstufe I (Mittelstufe) zum Einsatz kommt. Ihr Unterrichtsangebot
umfasst dabei größtenteils Musikschulfächer, in
der Regel als Erweiterung und Ergänzung, nicht als Ersatz des
schulischen Musikunterrichts: musikalischer Elementarbereich, Rhythmik,
Instrumentendemonstrationen, instrumentaler Gruppenunterricht, Klassenmusizieren
(insbesondere Bläserklassen) im Teamteaching mit der Fachlehrkraft
der allgemein bildenden Schule, Spielkreise, Bandunterricht, Musik-/
Tanz-/Theaterkurse, Komposition, Musiktheorie, Schülerkonzerte
der Musikschule für die allgemein bildende Schule, Vorbereitungsunterricht
für deren Orchesterarbeit, gemeinsame Musikabende, die Gestaltung
von Schulveranstaltungen durch die Musikschule oder Musikschul-Fortbildungen
für Schulmusiker gehören ebenso zum Kooperationsprogramm
wie gemeinsame Ensembles (Chor, Schulorchester, Instrumentalensembles,
Bands et cetera) und gemeinsame Projekte (zum Beispiel: Musical-Produktionen).
Chancen und Möglichkeiten
Ganztagsangebote der allgemein bildenden Schule bieten nun darüber
hinaus die Chance, für den Kernbereich des Unterrichts, im
AG- oder Wahlbereich und in den Betreuungszeiten von der Kooperation
mit der Musikschule zu profitieren.
Denn es ist klar: Es kann bei Ganztagsschulen nicht einfach nur
um einen beaufsichtigten längeren Aufenthalt der Schüler/-innen
im Schulgebäude über den eigentlichen Vormittagsunterricht
hinaus und eine halbwegs vertretbare Mittagsverpflegung gehen. Gefragt
ist die flächendeckende Umsetzung einer Lehr- und Lernkultur,
die Schulen vom oftmals lästigen, manchmal gar bedrückenden
Pflichtprogramm zu anregenden und herausfordernden Lernorten für
Kinder und Jugendliche macht. Und es gibt durchaus Schulen, die
diesen Schritt schon geschafft haben, zum Teil lange bevor Investitionsprogramme
und Werbekampagnen von Regierungsseite den dringend notwendigen
Reformprozess verordneten.
Die Praxis zeigt: Es geht nicht ohne Erfindungsreichtum, Flexibilität
und großes persönliches Engagement. Und: Es geht kaum
ohne außerschulische Partner aus dem regionalen kulturellen
und wirtschaftlichen Umfeld der Schulen, die sich mit ihren inhaltlichen
Angeboten, ihrer Personenkapazität und ihrem Know-how ergänzend
und bereichernd in das pädagogische Konzept der jeweiligen
Schule einfügen.
Natürlich trifft die konkrete Umsetzung auch auf Probleme.
So können zum Beispiel Musikschulen in der Regel keinen kostenlosen
Unterricht anbieten. Eltern sind aber nicht immer willens oder in
der Lage, für einen Unterrichtsbeitrag der Musikschule im Rahmen
der allgemein bildenden Schule Musikschulgebühren zu zahlen.
Zumal einige allgemein bildende Schulen selbst in AG-Form zum Nulltarif
oder zumindest stark verbilligt Instrumental- oder Ensemblekurse
zur Wahl stellen. So ist die Honorierung der Musikschullehrkraft
häufig ein strittiges Thema. Ein Musikschulangebot als AG der
allgemein bildenden Schule erhält wiederum oft einen eher beliebigen
Charakter, was sich negativ auf den Unterrichtsbesuch durch die
Schüler auswirkt. Eine kontinuierlich aufbauende Gruppenarbeit
wird darüber hinaus durch die halbjährlich wechselnden
Stundenpläne und die dann oft bis zu einem Monat sich erstreckende
„Anlaufzeit“ bis zur endgültigen „Version“
erschwert. Häufig fehlt es an in Größe und Ausstattung
geeigneten Räumen in der allgemein bildenden Schule, die zudem
oft noch nicht zuverlässig zugänglich sind.
Mangelnde Kommunikation zwischen Schulmusikern, Schulleitung und
Musikschullehrkräften führt zu Spannungen.
Musikschullehrer mit einem Arbeitstag, der von Mittag bis oft
in die späten Abendstunden angefüllt ist, sind oft nicht
bereit, auch noch am Vormittag zu unterrichten. Zudem sind nicht
alle dafür ausgebildet, einer ganzen Schulklasse gegenüberzustehen
und mit
disziplinarischen Problemen in den leistungs- und interessenheterogenen
Gruppen fertig zu werden.
Um bereits bestehende Kooperationsprojekte vor Ort zu stützen
und zum Beginn neuer Zusammenarbeit zu ermutigen, begannen Bundes-
und Länderebene des VdM daher mit der Entwicklung von geeigneten
Hilfen. Initiativen zur Kooperation sollten und dürfen nicht
mehr allein Sache der einzelnen Schulleitungen sein. Rahmenvereinbarungen
einiger VdM-Landesverbände mit den Landesregierungen, zum Teil
mit Beteiligung der Landesmusikräte und anderer Partner, legten
wichtige Grundsteine für ein solides und erfolgversprechendes
Fundament der Kooperationen von Musikschulen mit allgemein bildenden
Schulen.
Arbeitshilfe
Mit der Erstauflage einer „Arbeitshilfe und Materialsammlung
zur Kooperation von Musikschule und Ganztagsschule“ stellte
die VdM-Bundesgeschäftsstelle im Januar 2004 ein praktisches
Kompendium zum Thema zusammen.
Die 750 Exemplare der ersten Auflage waren innerhalb von zwei
Wochen vergriffen, so dass bereits im Februar 2004 ein überarbeiteter,
um neue Entwicklungen erweiterter Neudruck nötig wurde, für
den schon im Vorfeld wiederum zahlreiche Vorbestellungen vorlagen.
Und das, obwohl die Veröffentlichung ebenfalls im VdM-Extranet
für die Mitgliedschulen verfügbar war und ist. Die unvermindert
starke Nachfrage machte inzwischen für März 2005 die dritte,
aktualisierte und erweiterte Auflage nötig.
Die Broschüre hat für die Praxis vor Ort umfassendes
Informationsmaterial zusammengetragen. Unter anderem ist der Text
der in einigen Bundesländern bereits wirksamen Rahmenvereinbarungen
und Kooperationsverträge im Wortlaut abgedruckt, eine vorausgehende
synoptische Darstellung ermöglicht den Vergleich der Inhalte.
Handlungsvorschläge zum Beginn einer Kooperation können
zur Erstellung von Check-Listen zur Planung des eigenen konkreten
Kooperationsangebots herangezogen werden. Modellbeispiele aus VdM-Musikschulen
zeigen das Funktionieren in der Praxis.
Die große Sammlung kreativer Allianzen zeigt dabei deutlich:
Ganztagsschulen können in Zukunft den Freiraum unserer Schüler/-innen
zum Ausleben ihrer spezifischen Interessen und Fähigkeiten
noch mehr beschneiden, als es Schule manchmal jetzt schon tut. Sie
können aber auch eine Chance darstellen, mehr Kindern Zugang
zu Bildungs- und Erziehungsquellen zu erleichtern, die ihnen bisher
weniger verfügbar waren, für ihre Persönlichkeitsentwicklung
aber wichtige Beiträge leisten können. Musik gehört
unbedingt dazu!