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2005/04 | Seite 24
54. Jahrgang | April
Musikvermittlung
Männerchöre – ein deutsches Thema?
Der Landesmusikrat Hamburg betreibt bundesweit vorbildliche Imagekorrektur
Musikvermittlung hat sich bundesweit vielerorts als Terminus Technicus
für das weite Tätigkeitsfeld der Konzertpädagogik
etabliert. Dass damit auch das Konzert-bezogene Singen und eine
entsprechend geförderte Chorarbeit gemeint sein können,
hat das Hamburger Chorfest „Jungs mit starker Stimme“
jüngst bewiesen. Welch breiter Vielfalt die Herangehensweisen
an eine methodisch behutsame und dennoch motivierende Stimmbildung
dabei unterliegen können, zeigt der Facettenreichtum an Möglichkeiten,
mit dem sich das Singen im Knaben- oder Männerchor inzwischen
entwickelt hat. Bleibt zu hoffen, dass so auch in den deutschen
Berufschören das Bewusstsein für eine offensive Art der
Nachwuchs- und Publikumsförderung durch Chorkonzerte für
ausgewählte Ziel- und Altersgruppen weiterhin wächst.
Jungs mit starker Stimme:
am Anfang steht die kindliche Erlebniswelt. Foto: Landesmusikrat
Hamburg
Einmal ehrlich: Was verbindet man(n) gemeinhin mit einem Männerchor?
Meist doch wohl jenes Klischee von dickbäuchigen Barden, die
im rauchgeschwängerten Bierdunst von Gasthaus-Nebenzimmern
den „Jäger aus Kurpfalz“ anstimmen. Zusammen mit
der nicht ganz unbelasteten Geschichte des Männerchorwesens
im frühen 20. Jahrhundert dürfte dieses Image mit ursächlich
dafür sein, dass sich unter den rund 60.000 Chören in
Deutschland immer weniger Männerchöre finden. Höchste
Zeit also, hier gegenzusteuern.
Ute Hermann, die Geschäftsführerin des Landesmusikrates
Hamburg, hatte da eine zündende und zugleich bundesweit vorbildliche
Idee. Unter dem Motto „Jungs mit starker Stimme“ kreierte
sie die „Tage der Knaben- und Männerchöre“,
um zu beweisen, dass „mann“ sehr wohl singt. Und eben
nicht nur das Lied vom kurpfälzischen Jäger.
Es geht eben auch hier zunächst um die Vermittlung: Wie bringt
man den Mann zum Singen? Professor Elisabeth Bengtson-Opitz vom
Bund Deutscher Gesangspädagogen hat da ihre ganz eigenen Vermittlungstechniken
und lässt ihre Männergruppe beim Schnupperkurs erst einmal
Luftballons aufblasen. Kann Mann dann aus ihrer Sicht richtig atmen,
geht’s mit Gymnastik und Jogging weiter. Bengtson-Opitz holt
sie also gleichsam vom Sportplatz ab; erst allmählich lässt
sie auf für jeden bequeme und beliebige Töne einfache
Worte wie „Hallo“ singen. So entsteht ganz natürlich
ein Klang, der allmählich unter ihrer Anleitung veredelt wird.
Mit Kindern muss natürlich anders begonnen werden. Ulrich
Kaiser vom Neuen Knabenchor Hamburg und Rosemarie Pritzkat vom Knabenchor
St. Nikolai setzen an der kindlichen Erlebniswelt an. Anhand eines
tropfenden Wasserhahns etwa schult Kaiser mit rhythmusbetonten Liedern
quasi nebenbei das Takt- und Tempogefühl. Die Liedertexte werden
erst nachgesprochen; darauf lässt Kaiser gezielt einzelne Wortlücken
folgen, die von den Kindern ergänzt werden. Faszinierend zu
beobachten, wie rasch sich schon die Vierjährigen etwas merken
können. Mitunter wird der Text nur geflüstert, ein andermal
sehr laut gesprochen – so entwickeln die Kinder ihr Gefühl
für Dynamik.
Noten sind erst einmal tabu – erst zum Schluss verteilt Kaiser
seine Blätter „für zu Hause“. So erschließt
sich die Bedeutung der musikalischen Zeichensprache über den
Text und das Sich-Erinnern.
Auf Noten verzichtet zunächst auch Pritzkat; die werden später,
in einem eigenen Kurs, erklärt. Sie singt ihren Fünfjährigen
lieber so lange vor, bis sie es können. So wird Singen zugleich
zum nützlichen Gedächtnistraining. Und mit ihrer motivierenden
Engelsgeduld, ihrem liebevollen Insistieren und den ebenfalls von
der kindlichen Erlebniswelt ausgehenden Übungen („mach
mal deine Lippen wie ein Karpfenmaul“) kommt sie in überschaubarer
Zeit mit spontan aus dem Publikum herausgegriffenen Kindern zu vorzeigbaren
Ergebnissen. Einen Knabenchor sieht sie dabei als geradezu ideale
Ausgangsbasis für das musische Fordern und Fördern: „Jungs
wollen im Rudel sein – klingt archaisch, ist aber so!“
Nur, dass in den „Rudeln“ bedauerlicherweise die weiche,
kreative Seite der Söhne nicht selten zu wenig Beachtung findet:
„Klischeebilder von ‚Männlichkeit‘ sind in
der Erziehung noch immer vielerorts im Umlauf. Jungen werden emotional
zu wenig gefördert, und in der Pubertät herrschen in den
Cliquen oft Aggression, Druck oder Zwang.“ Und gerade hier
entfaltet das Chorsingen seine soziale Wirkung, die weit über
das rein Musikalische hinaus geht. Denn hier erfahren die Kinder
Selbstbestätigung, entwickeln bei Auftritten auch Selbstbewusstsein
und sicheres Auftreten. Solche Kinder müssen später nicht
zuschlagen, um „wer“ zu sein oder um ihr Selbstwertgefühl
zu steigern.
So erwies sich die exzellent konzipierte, hervorragend organisierte
und vorbildlich durchgeführte Veranstaltung zum Volltreffer
für den Landesmusikrat Hamburg.