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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 12
54. Jahrgang | April
Nachschlag
Missliebige Musik
Bei einem Symposion über „Musik und Ökonomie”
der Münchner Gesellschaft für Neue Musik im März
wurde der Begriff kapitalistischer Realismus ins Feld geführt,
um Tendenzen heutigen Schaffens vor allem in angloamerikanischen
Ländern und seiner Verwertung zu umreißen. Er stellte
ein Pendant zum sozialistischen Realismus her, der die parteipolitischen
Eingriffe auf die künstlerische Produktion in den Staaten des
sowjetischen Einflussbereichs in der Stalinzeit (und auch noch danach)
umriss. Die These wurde geäußert, dass der ökonomische
Zwang auf dem freien Markt ähnliche Resultate zeitigt, wie
dies in autoritären Staaten unter dem verordneten Begriff der
Volksnähe der Fall ist. Ohne dies zur argumentativen Deckungsgleichheit
zu verbiegen, darf man darüber nachdenken.
Bekannt ist, dass Mitte der dreißiger Jahre in der Sowjetunion
größere Ausrichtprozesse stattfanden, von denen auch
der Komponist Schostakowitsch betroffen war. Er hatte gerade seine
vierte Sinfonie abgeschlossen, als ihn die parteigesteuerte Kritik
ereilte, die sich an seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk”
entzündet hatte und sich sogleich auch auf das neue Orchesterwerk
stürzte. Schostakowitsch zog das Werk vor der Uraufführung
zurück. Mit seiner Fünften gab er, man mag sich darüber
streiten, ob dies real oder nur zum Schein der Fall war, der Doktrin
nach. Sie ist fraglos fasslicher, weniger dissonant, sie ist stärker
formal gebändigt und gehorcht zumindest äußerlich
tradierten sinfonischen Prinzipien. Das Werk wurde bei seiner Uraufführung
mit großem Überschwang gefeiert, Schostakowitsch, so
befand man, saß wieder im gemeinsamen Boot.
Bei uns zeigt man sich empört ob solcher Praktiken der Beeinflussung,
denn die Hebel der Macht konnten bis zur Zerstörung der Existenz,
ja sogar bis zur Verfolgung und Ermordung des Künstlers gehen.
Dennoch muss verwundern: Das Werk, das von der Partei als Rückkehr
auf den richtigen Weg betrachtet wurde, ist auch im Westen und heute
noch die am meisten gespielte Sinfonie von Schostakowitsch (die
verfehmte vierte Sinfonie erklingt dagegen so gut wie nie). Das
Mäntelchen, dass ja in der Fünften der geheime Widerstand
zwischen den Zeilen stehe (und im allzu insistierenden Pathos des
Schlusses unüberhörbar sei), wirkt so, als müsse
man diese Tatsache verbrämen. Die Werke, die unter Stalin als
formalistisch abgelehnt wurden (also zum Beispiel die der Schönberg-Schule
und andere Modernismen) und die im Dritten Reich als entartet galten
(dito) führen auch in heutigen Konzerten eher ein Randdasein.
Die Kompositionen aber, die damals durchgingen, füllen auch
heute noch die Konzertsäle. Was damals unter gesundem Volksempfinden
firmierte, regelt heute der freie Markt, die Quote. Die Überschneidungszone
jedenfalls ist sehr groß. Die Frage, was hieran nicht stimmt,
darf, ja muss gestellt werden. Es ist ein Nachdenken über unsere
Position.