[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 45
54. Jahrgang | April
Bücher
Die Werte für die Nachkommen erhalten
Ein Kompendium für die Musik des 20. Jahrhunderts von Ingo
Metzmacher
Ingo Metzmacher: Keine Angst vor neuen Tönen.
Eine Reise in die Welt der Musik, Rowohlt, Berlin 2005, 192 S.,
€ 16,90, ISBN 3-87134-478-8
Der Erscheinungszeitpunkt für Ingo Metzmachers lockeres Kompendium
über die Musik des 20. Jahrhunderts hat nicht besser gewählt
werden können. Just seit Jahresbeginn feiert München,
nein, feiert der ganze Freistaat Bayern, mit Staatsakt im Herbst
und aufeinander abgestimmten Orchesterkonzerten mit allem Pi-Pa-Po
den hundertsten Geburtstag von Karl Amadeus Hartmann. Dessen Lebenswerk
weist ein eher schmales aber klanglich recht wuchtiges Œuvre
auf. Fast wichtiger ist Hartmann wegen seiner bis heute existierenden
Münchener Konzertreihe musica viva, mit der er unmittelbar
nach Kriegsende einen ästhetischen Neubeginn einläutete
und unzähligen jungen Komponisten ein Forum schaffte.
Metzmacher ist bei den Feierlichkeiten in München mittenmang,
arbeitete über Jahre darauf hin. Zweimal am Pult der Münchener
Philharmoniker und einmal an dem des Sinfonieorchesters des Bayerischen
Rundfunks wird er Hartmann dirigieren. Dessen Werke sind für
Metzmacher der Inbegriff von redlicher Bekenntnismusik schlechthin.
Denn, so der Autor: „Jede große Musik ist Bekenntnismusik.“
In dem knapp 200 Seiten umfassenden Bändchen ist der Beziehung
zur Musik und dem Menschen Hartmann selbstredend ein eigenes Kapitel
gewidmet. Bei dem Ersteinspieler aller acht Sinfonien, damals noch
mit den Bamberger Sinfonikern für die EMI, und Weltreisenden
in Sachen Hartmann wundert es fast schon, dass er sich bei seinem
ästhetisch-menschlichen Vorbild auf genau die meist zehn Seiten
umfassenden Monographien beschränkt, die auch allen anderen
Sternen am persönlichen Komponistenhorizont gewidmet werden.
Die Liste liest sich wie ein who is who der Musik des 20. Jahrhunderts
(freilich außer Pfitzner, dem „Anti-who“). Charles
Ives und Gustav Mahler sind die Großväter aller Klänge,
in der Genealogie gefolgt von Debussy, Messiaen, Schönberg,
Varèse, Stockhausen, Nono, eben Hartmann, Strawinsky und
Cage. Geschickt hat Metzmacher den Komponisten zusammenfassende
Begriffe übergeordnet, die er essayistisch erläutert.
Mit den Kategorien „Zeit“, „Farbe“, „Natur“,
„Geräusch“, „Stille“, „Bekenntnis“
und „Spiel“ schafft es Metzmacher, dem Leser, ohne dass
der es eigentlich merkt, die Musik des letzten Jahrhunderts begreifbar
zu machen. Metzmachers Kunst als schreibender Dirigent liegt hier
in der unmittelbaren Anbindung der Musik an die persönlich
erlebte und reflektierte Musikgeschichte.
Die kann auch Familiengeschichte sein. Geschildert werden die Ferienexkursionen
mit der ornithologisch interessierten Mutter – „das
Fernglas war ein heiliges Gepäckstück“ –,
um eine Brücke zu Olivier Messiaens Transkriptionen der Rufe
von Steinkauz und Nachtigall zu schlagen. Erste Begegnungen mit
lokalen Komponisten prägen das junge Talent ebenso: „Auf
dem Schreibtisch in mehreren Lagen Partiturseiten, Rechnungen, Briefe,
Probenpläne, wie konnte man sich hier nur zurechtfinden. Ich
war erschlagen.“ Es erschlug ihn dennoch nicht, wie wir wissen.
Vielmehr prägten Metzmacher neben Hartmann vor allem Luigi
Nono und John Cage. Den dirigentischen Ritterschlag bekam er schließlich
mit der Aufführung von Luigi Nonos kompositorischem Vermächtnis
„Prometeo – Tragedia dell’ ascolto“ (Tragödie
des Hörens) bei den Salzburger Festspielen 1993, drei Jahre
nach Nonos Tod. „Als er erschien, geschah etwas mit mir. [...]
Wenn er den Raum betrat, veränderte sich alles“, beschreibt
Metzmacher seine Faszination gegenüber dem Venezianer. Der
„Prometeo“ wurde für Metzmacher eben keine Tragödie
des Hörens, sondern ein Triumph des Willens im Leisen. Nono
habe ihn auf der Suche nach seiner ganz persönlichen Mission
mit dem „Prometeo“ herausgefordert. Als Nono starb war
das „der traurigste Tag“ in seinem Leben.
Metzmacher kann von Resistenza-Kämpfer Nono aus eine direkte
Linie zum inneren Emigranten Hartmann ziehen: „Er hat in den
dunkelsten Jahren unserer Geschichte die Werte der großen
deutschen Musiktradition hochgehalten und so für die Nachkommen
bewahrt.“ Der Satz könnte allerdings auch von Thielemann
sein. Für Metzmacher war Hartmann indes eine Initiation nicht
nur wegen dessen kreatürlicher Expressivität. Hartmann
habe ihm ermöglicht, sich in einer Zeit als Deutscher zu definieren,
in der man deswegen noch ziemlich beargwöhnt wurde.
Schließlich John Cage: „Er ging wie ein Heiliger durch
die Welt und ließ sich nicht beirren.“ Von ihm lernt
Metzmacher, immer wieder bei Null anzufangen, die Schönheiten
wahrzunehmen, „die alle schon da sind.“ Mit Stockhausen
hätte es noch schöner werden können. Nach zahlreichen
gemeinsamen Projekten wollte der Meister von Metzmacher eine Entscheidung
für sein Werk. „Das sei im Grunde wie heiraten.“
Metzmacher wollte nicht, sah in Stockhausens mikroskopisch durchgestalteten
Partituren auch keine gestalterischen Möglichkeiten für
einen Dirigenten seines Formats. „Ein Dirigent, wenn überhaupt,
wird nur noch zur Koordination gebraucht,“ schreibt Metzmacher.
Diese Art Gefolgschaft war nicht sein „Ding“, wie man
etwas salopp formulieren könnte.
Metzmacher schickt sich an als Katalysator zeitgenössischer
Musik das Erbe von Hermann Scherchen, dem Mentor Hartmanns und Michael
Gielen zu übernehmen. Dann wäre er in seiner „Reise
in die Welt der Musik“ angekommen. Das Logbuch liegt schon
vor. Vielleicht war es kein Zufall, dass Metzmacher bei seiner Frankfurter
Lesung in der Deutschen Ensemble Akademie seine Hemdfarbe Orange
passend zum rot-orangen Buchdeckel gewählt hatte. In dessen
Kolorit könnte wiederum eine Botschaft stecken. Der bekennende
Fußballfan Metzmacher wechselt dieses Jahr als Chefdirigent
an das Opernhaus Amsterdam. Das hat allerdings kein eigenes Orchester.
Stattdessen darf Metzmacher unter nicht weniger als fünf renommierten
Orchestern Hollands für jede der meist zehn Neuproduktionen
der Spielzeit auswählen, darunter das Concertgebouw Orkest
und die Niederländische Philharmonie. Sportsmann Metzmacher
wird damit der Nationaltrainer der holländischen Spitzenorchester
und gewissermaßen ein Marco van Basten der Oper. Der ist übrigens
laut Vertrag zu einer „attraktiven Spielweise“ verpflichtet.
Mit seinem Büchlein kann er sich auch gut den Niederländern
empfehlen.