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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 45
54. Jahrgang | April
Bücher
Entdeckungsreise in unbewältigte Vergangenheit
Fred K. Priebergs „Handbuch Deutscher Musiker 1933–1945“
Mit dem zehnten Transport des Reichssicherheitshauptamts (RSHA)
aus Belgien trafen 1048 Juden aus dem Lager Malines ein. Nach der
Selektion auf der Ausladerampe von Ausschwitz werden 230 Männer
und 101 Frauen als Häftlinge in das Lager eingewiesen. Die
übrigen 717 Deportierten werden in den Gaskammern ermordet.
Unter ihnen ist Henri Hinrichsen, 74 Jahre alt, Geheimer Kommerzienrat,
Stifter der Hochschule für Frauen als erste Einrichtung dieser
Art in Deutschland (1911), Begründer des Musikinstrumentenmuseums
Leipzig, Musikverleger, bis 1939 Inhaber des Verlages C. F. Peters
und des Rieter-Biedermann-Musikverlages. Nach dem Überfall
Hitlers auf Belgien im Mai 1940 wurde er in Brüssel verhaftet
und nach Au
schwitz deportiert.
Von seinem Schicksal seit 1933 wüsste man nur wenig, gäbe
es nicht das neue „Handbuch Deutscher Musiker 1933–1945“
von Fred K. Prieberg, erschienen zusammen mit dem „Archiv-Inventar
Deutsche Musik 1933–1945“ auf zwei CD-ROMs im Selbstverlag
(150 Euro, Information, Kontakt und Bestellmöglichkeit im Internet:
www.fred-prieberg.de).
Prieberg folgt seinem Lebensweg seit 1933 akribisch, mit Angabe
aller erreichbaren Quellen. Es fing mit einem Boykott des Peters-Verlags
bei einer Notenausstellung zur Tagung des Nationalsozialistischen
Lehrerbundes (NSLB) an, gegen den Hinrichsen über Havemann
bei Staatskommissar Hinkel um Hilfe ansuchte.
Hinrichsen wies darauf hin, dass die Maßnahmen des Dritten
Reichs die deutschen Autoren schädige. Dieser Hilferuf führte
vorübergehend zu einem Sonderstatus.
Knebelvertrag
Kurt Herrmann, ein Jagdgenosse Görings, machte ein erstes
Kaufange-
bot für den Verlag mit einer Million Reichsmark und einer freien
Ausreise Hinrichsens in die Schweiz. Der Druck verschärfte
sich, nachdem Hinrichsen im November 1938 „ausgegliedert“,
SS-Standartenführer Noatzke als kommissarischer Leiter des
Verlages eingesetzt und Hinrichsen verboten wurde, die Verlagsräume
zu betreten. Mit einem Knebelvertrag übernahmen die Gesellschafter
Hermann als Finanzier und Petschull, frisch entlassener Prokurist
bei Schott, als Verleger C.F. Peters. Die Kosten des Kaufes lagen
weit unter dem wirklichen Wert, um die schäbige Abfindung wurde
Hinrichsen mehrfach betrogen, die Auszahlung immer wieder hinausgeschoben,
so dass der Sohn Hans den neuen Inhaber Petschull um eine pünktliche
Abwicklung anflehen musste, da sonst schon wieder ein Ausreisevisum
verfallen werde. Am 28. Januar 1940 reiste Hinrichsen nach Belgien
aus, wo ihn die SS-Schergen bald erreichten. Sein Sohn Hans starb
1940 im französischen Internierungslager St. Cyprien an Typhus,
sein Sohn Paul war vorübergehend im Isrealitischen Kinderheim
untergebracht, dann wurde er Zwangsarbeiter in Fürstenwalde,
1943 wurde er in Auschwitz ermordet.
Dokumente, Kommentare
Prieberg dokumentiert nicht nur reichhaltig das Geschehen, er
kommentiert es auch, schreibt mit Zorn und Eifer. Er füllt
die Lücken, die andere Nachschlagwerke haben, ergänzt
die nachlässig geführten Werkverzeichnisse von Komponisten,
vervollständigt die Lebensläufe von Musikwissenschaftlern,
nennt die Archive, die Quellen, zitiert ausführlich –
ein unentbehrliches Werk für alle, die sich mit dieser Zeit
beschäftigen. Es bleibt auch keineswegs bei 1945 stehen, sondern
verfolgt die aufgezeigten Fäden, deckt Geschichtsfälschungen
auf, nennt Namen und Zusammenhänge. Es ist eine aufregende
Entdeckungsreise in ein Land, das man noch immer viel zu wenig kennt.
Da liest man von Professor Gerber, der in seinem Aufsatz über
die „Musik der Ostmark“ Mahler als einen „tschechischen
Ghetto-Juden“ bezeichnete, der „eine Ära des äußeren
und inneren Verfalls“ einleitete. Gerber war auch Mitarbeiter
des Sonderstabes Musik, des Unternehmens „Schau und Klau“,
das Plünderungen von Kunstschätzen in Westeuropa organisierte.
Man erfährt von dem Komponisten Ottmar Gerster, dessen Oper
„Die Hexe von Passau“, ein Stück aus dem Bauernkrieg,
1941 in Düsseldorf aufgeführt wurde. Für die Oper
erhielt er 1941 den Robert-Schumann-Preis der Stadt Düsseldorf
– „nicht Einzellos, sondern Volksschicksal […]
eine Oper, die vom ersten bis zum letzten gegenwartsnah ist.“
(Heinzen in der Besprechung der Uraufführung) Nach 1945 wurde
Gerster sozialistischer Komponist in der DDR – nun war seine
„Hexe von Passau“ ein aufrührerisches Werk, das
„von den faschistischen Behörden wieder abgesetzt, wurde“
(Czerny: Opernbuch). Prieberg dokumentiert Aufführungen in
Bremen und Magdeburg, Essen, Liegnitz und so weiter.
Priebergs „Handbuch Deutscher Musiker 1933–1945“
ist ein umfangreiches, ein wichtiges Werk, das mit seinen Hinweisen
vieles nur Geahntes zum gesicherten Wissen macht und wieder neue
Fragen stellt. Das fast 10.000 Seiten umfassende Werk möchte
man gerne gedruckt in Händen halten. Die digitalisierte Form,
in der es nun vorliegt, befriedigt aus vielen Gründen nicht.
Statt sich etwa der Möglichkeiten der Digitalen Bibliothek
zu bedienen, die ein solches Werk gut nutzbar machen könnten,
liegt das Handbuch in einer pdf-Datei vor, die nur ungenügend
indiziert ist (der Buchstabe „G“ hat zwar das Lesezeichen
„Ge“, aber da braucht es schon Zeit, um zu Gerber zu
kommen – sich bis Gerster durchzuscrollen, ist schon eine
Zumutung – da ist das Stichwort „Gerigk“ dazwischen).
Zitate sind nicht per „copy and paste“ zu übernehmen,
es gibt keine Verlinkung zwischen den Artikeln – nur einen
langen Text.