[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 42
54. Jahrgang | April
Rezensionen
Pastellgefärbte Ferne, Schimmern des Sonnenuntergangs
Neue Aufnahmen mit Pierre Boulez als Komponist und als Dirigent
Die musikalische Haltung auch gegenüber älterer Musik
schult sich am gegenwärtigen Schaffen; genauso wie dieses der
alten bedarf und in ihr ein unverzichtbares Korrektiv findet. Die
Wurzel hat den Plan für das zu ihr gehörige Blatt in sich
und ermöglicht dessen Wachstum; wenn sie aber keine Energie
dorthin schickt, verkümmert letztlich auch sie. Kaum eine zweite
Gestalt des 20. Jahrhunderts hat diese Prinzipien so sehr zur eigenen
Schaffensmaxime erhoben und sie mit Leib und Seele erfüllt,
wie der in diesen Tagen 80 Jahre alt gewordene Pierre Boulez. Zuerst
als Komponist und Pianist in Erscheinung tretend, wurde er bald
zur überragenden Dirigentenpersönlichkeit. Überragend
deshalb, weil seine kompositorischen Erfahrungen, sein steter Wunsch,
neues Fruchtland zu betreten, zurückflossen auf die Art, die
traditionelle Musik zu sehen und zu hören.
Die Netzwerke zwischen Geschichte und Gegenwart sind fließend;
vor allem dann, wenn die Bezüge ernst genommen werden. Das
heißt für die Interpretation, das radikale Auftreten
der älteren Musik in ihrer Zeit auch für das heutige Verständnis
erfahrbar zu machen – und dann mag das Historische mitunter
moderner wirken, als manches neu Entstandene. Daran denkt der gegenwärtige
Musikbetrieb freilich nur wenig: Er neigt dazu, das Alte zu „zivilisieren“,
also den Mantel der angenehmen, ja leichten Zerstreuung überzuhängen.
Es entsteht der Eindruck einer pastellgefärbten Ferne, deren
Schimmern man genießt wie den Sonnenuntergang.
Diesen Vorgaben hat sich Boulez nie gebeugt, schon seine Programmzusammenstellungen
erzeugten fruchtbare Irritationen. Und das Moment der inneren Notwendigkeit,
der individuellen Faszination, trat bei jedem Werk, ob alt oder
modern, in gleichem Maße an den Hörer. Wenn jetzt die
Deutsche Grammophon unter dem Titel „Boulez 2005“ eine
Reihe mit neuen Aufnahmen herausgibt, die dem Dirigenten und Komponisten
Pierre Boulez gewidmet sind, dann ist das ganz entschieden zu begrüßen.
Jetzt sind die drei Klaviersonaten mit dem finnischen Pianisten
Paavali Jumppanen, die Klavierkonzerte von Béla Bartók
und drei Liederzyklen von Gustav Mahler erschienen (ebenfalls „Le
Marteau sans maître“, das in der nächsten Ausgabe
besprochen wird).
Bartóks drei Klavierkonzerte sind mit drei Pianisten und
drei Orchestern vorgelegt. Krystian Zimerman und das Chicago Symphony
Orchestra spielen das erste (2001), Leif Ove Andsnes und die Berliner
Philharmoniker das zweite (2003) und das London Symphony Orchestra
mit Hélène Grimaud das dritte (2004). Das mag zufällig,
also jeweiligen Einspielsituationen geschuldet, wirken, doch bei
genauerem Hinhören verbirgt sich hier eine überzeugende
Logik. Denn Boulez hat die Besetzung stimmig den Charakteren der
drei Konzerte angepasst (wie weit hierbei der Zufall mitspielte,
ist dann zweitrangig).
So erzielen der Pole Zimerman und das Chicago SO einen ausgesprochen
harten, unversöhnlichen Ton, der die schroffe Kontur des Werks
markant hervorarbeitet. Andsnes hebt mit den Berlinern die ironisch
gebrochenen Seiten des zweiten Konzerts überlegen hervor, und
Grimaud findet genau den sensiblen und weicheren Klang des dritten.
Boulez passt den jeweiligen Orchesterklang diesen Perspektiven luzide
genau an.
Ähnlich ergeht es bei der Mahler-CD: auch hier eine sensible
Abstimmung der Charakteristik. Thomas Quasthoff lässt in den
„Liedern eines fahrenden Gesellen“ keine Sentimentalität
zu und hebt gerade dadurch die Dimensionen der verzweifelten Trauer
und des stillen Trostes auf neue Ebenen.
Violeta Urmana gelingt es großartig, die differenzierte Intimität
der Rückert-Lieder zu modellieren, und Anne Sophie von Otter
gibt sonor die „Kindertotenlieder“ in ihrer vom Orchester
nachdrücklich unterstrichenen zerklüfteten Außenseite.
Boulez wirkt in den knappen wie vielschichtigen Liedpartituren vielleicht
noch überzeugender als in den Sinfonien.
Bei den drei Klaviersonaten von Pierre Boulez hat für mich
Idil Biret (bei Naxos) die bislang überzeugendste Einspielung
mit bestechender rhythmischer Innenspannung vorgelegt. Aber der
junge Paavali Jumppanen bestätigt mit geschmeidigem Ton, Farbigkeit
und äußerst sensibler Anschlagskultur eine Beobachtung,
die immer wieder gerade bei kompositorischen Arbeiten von Boulez
gemacht wird: Die Werke, die einst Bastionen stürmten und ästhetische
Gebäude zum Wanken brachten, wirken heute ganz selbstverständlich
in ihrer klanglichen Erscheinung. Es sind aufregend schöne
Werke, trunken von Farbe und Geste.
Reinhard Schulz
Diskografie
• Béla Bartók: Klavierkonzerte. Krystian Zimerman,
Chicago Symphony Orchestra; Leif Ove Andsnes, Berliner Philharmoniker;
Hélène Grimaud, London Symphony Orchestra; Leitung:
Pierre Boulez. DG 00289 477 5330.
• Gustav Mahler: Lieder eines fahrenden Gesellen; Rückert-Lieder;
Kindertotenlieder. Quasthoff, Urmana, von Otter; Wiener Philharmoniker,
Pierre Boulez. DG 00289 477 5329.
• Pierre Boulez: Klaviersonaten. Paavali Jumppanen. DG 00289
477 5328