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nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 42
54. Jahrgang | April
Rezensionen
Alte Bäume verpflanzt man nicht
Wie Pop-kulturelle Künstler im April ihre Wurzeln zurück
erobern
Den Jobgipfel überstanden, den sommerlichen Ozonwahn vor uns,
schreiten wir weiter, das Leben hinter uns zu bringen, wenn sonst
schon niemand vor uns steht. Im Kreise unserer Liebsten geht es
also los: Tim Renners neue „Motor“ Plattenfirma meldet
sich mit der ersten Vertragsunterschrift: dorfdisko. So nennt sich
ein Kölner Quartett aus der Pampa. Die EP „Unterwegs“
soll ausloten, ob ihre Punk angekratzte Mischung aus Neuer Deutscher
Welle, Alter Deutscher Welle und einem Stäubchen Pop beim Open
Air Publikum funktioniert. Könnte klappen, weil „dorfdisko“
nicht so laut-plakativ ist wie alle anderen Deutschsinger. Ein guter
Schuss Realitäts-Rock lässt den Schlund auf mehr Material
gierig offen stehen. Die Düsseldorfer Subterfuge umweht seit
jeher ein strenger Monsun des Geheimtipps. Die idyllischsten Kritiken
sahnten sie für ihre Indie- Perlen ab –, zum Aufmerksamkeits-
Durchbruch reichte es nie. Musste es auch nicht, beschloss die Band
einst und spielte für 2005 „The Legendary Eifel Tapes“
ein, die als Gemeinschafts-Erlebnis genannter Region entstanden.
Tragfähiger Pop mit Schwere, heftige Traurigkeitsmelodien verhaften
lockere Songstrukturen, Bläser lassen an Burt Bacharach erinnern,
rockigere Fetzen an Morrissey, und weil „Subterfuge“
sämtlichen Pomp verbannt haben, genießt man ein formidables
Popalbum im Sinne des erhabenen Songwritings. Mit knapp 14 Jahren
nahmen die Norweger Jaga ihr erstes gewollt orientierungsloses Album
auf, nun, elf Jahre später, evolutionierte man sich zu einer
homogenen Rockband mit dem Album „What we must“, das
die Raumzeit experimentell rockig zu füllen weiß. Orientalisches
Flair wird mit behutsamen Jazzakkorden angereichert, der Humus aller
Songs sind Prog-Rock-artige Gitarrenideen, die wohl temperiert in
elektronische Gefilde fliehen und mal Schlagzeug dann Tasten unter
Strom setzen. Nicht unbedingt gewagt, aber der Stil ist vielfältig
und provokativ.
„Lo-Fi- tistscher“ gehen die nächsten Nordlichter
Tiger Tunes ins Popgeschehen, wenngleich sie selbst meinen, einen
elektronifizierten Rock auf „Absolutely Worthless Compared
To Important Books“ zu spielen. Die Dänen paaren den
Humor der „Leningrad Cowboys“ mit Pop-Punk, der verhalten
zum Noiserock oder Wave-Pop kippt, den man in den 80ern ähnlich
gehört hat.
Die großen Garbage kehren mit ihrem vierten Album zurück.
Während man in Deutschland noch rätselt, wer das dynamische
„laut/leise- Spielchen“ der aktuellen Popwunder erfunden
hat, befindet sich die Band um Grunge-Ikone Butch Vig und Obergirlie
Shirley Manson in einer fünften Dimension. Nachdem die Band
kurzzeitig im Koma lag und strittige Alben absolvierte, geht es
mit „Bleed like me“ zurück ins Jahr 1995. Gitarren-geneigter
Rock mit butterweichen aber prägenden Elektronik-Samples. Eine
starke Rockplatte, die wohl an der uninteressierten Öffentlichkeit
vorbei rutschen dürfte.
Das Brothers Keepers Kollektiv ist 2005 mit dem zweiten Album unterstützend
am Start. Der gleichnamige eingetragene Verein (gegen Rassismus
und zur Begleitung Jugendlicher in gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen)
konnte diesmal Afrob, Denyo, D-Flame, Don Abi und unumstößlich
Xavier Naidoo zum gemeinsamen Singen und Songschreiben gewinnen.
Dezente HipHop-Nummern der deutschen Schule, bisweilen Reggaesongs
und gescheite Rapgesänge bilden das Korsett der Multikulti-Platte.
Nach Irrungen, Ausstiegen, Labelsuche, Musikfindung präsentiert
eine der ersten Crossover Bands, Such A Surge, das sechste Album
„Alpha“. Auch hier der Trend stark an den Kindertagen
der Band vor mehr als zehn Jahren ausgerichtet. Romantik hat wenig
Platz, knallhartes Entertainment zwischen Metalgitarren, Hardcore-Gesang
und politischen wie ironisierenden deutschen Texten. Ein Mutmacher-Album
ohne Pop und das übliche „Deutsch“-Gehabe. Besitzenswert.
Es gibt Songwriter, die funktionieren als Kopien, andere sind
so mit sich selbst verkracht, dass man lange hören muss, um
jene Größe der Songs zu erkennen. Die Schwedin Ane Brun
gehört zu dieser kauzigen Ecke. Skandinavisch isoliert schreibt
sie mit einer Tragweite, die oft erst später – vielleicht
läuft schon ein anderes Album – real wird. Die Akustikgitarre
bleibt ihre Begleiterin im Zentrum der Empfindungen, ihre Songs
bleiben kurz, scheinbar mit verschlossenen Augen in Dunkelheit geschrieben.
Unnahbar, distanziert, aber mitten ins Herz trifft sie mit „A
Temporary Dive“. Oft überblickt wird Keimzeit um die
Geschwister Leisegang. Wer Songs wie „Mailand“ schreibt,
meisterliche Untertöne anschlägt und musikalisch so auf
der Höhe der Zeit ist, ohne Wurzeln umzustoßen, der spielt
in einer fantastischen Band, die Keimzeit heißt. Wer „Privates
Kino“ nicht abgöttisch liebt, wird Keimzeit nie mehr
lieben können. Rockmusik aus Deutschland als Grobdefinition
reicht völlig.
Der Holländer Carel Kraayenhof etabliert sich mit „Street
Tango“ (inkl. DVD) als herausragender Tango-Erneuerer. Der
Bandoneon-Star schließt den Kritikern zufolge die Lücke
zwischen Piazzolla und Pugliese, und in der Tat: Frischer, brisiger
und urbaner hat man den von Kraayenhof gespielten Tango lange nicht
mehr gehört. Die Wehmut macht er greifbar.
Die Kanadierin Sarah Slean begann als Piano spielende Songwriterin
und entdeckt nun auf „Day One“ den Pop, der sich allerdings
unbedingt zum Rock mausert, mal durch humoristische wie kabarettistische
Einlagen aufgelockert aber auch an die alten Zeiten gemahnend Songwriter
Tiefen hervorruft.
Sven Ferchow
Diskografie
• Sarah Slean: Day One (Warner)
• Carel Kraayenhof: Street Tango (Universal)
• Keimzeit: Privates Kino (Pirate Records)
• Ane Brun: A Temporary Dive (V2 Records)
• Such A Surge: Alpha (Nuclear Blast)
• Brothers Keepers: Am I my Brother’s Keeper (BMG)
• Garbage: Bleed like me (Warner)
• Tiger Tunes: Absolutely Worthless… (V2)
• Jaga: What we must (Ninja Tune)
• Subterfuge: The Legendary Eifel Tapes (Supermodern Music)
• dorfdisko: Unterwegs EP (Motor)