[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2005/04 | Seite 12
54. Jahrgang | April
Semmelmann
Semmelmanns Musica viva
I’m a rocker
Immer wieder horche ich in mich rein. Einfach um festzustellen,
ob sich was geändert hat. Und immer wieder merk’ ich
nix. Also hat sich nix geändert. Woran? Ach so. An meinem Verhältnis
zur Klassischen Musik. Das In-mich-rein-Hören geht nun schon
ein paar Jahrzehnte lang so. Inzwischen bin ich auf dem besten Wege,
ein alter Sack zu werden, doch mein Herz bleibt noch immer kalt,
wenn ich irgendwo kollektives Bratschengekratze oder Oboengequäke
höre. Warum ist das so? Wie immer bei der Entwicklung abnormer
Persönlichkeitsformen spielt auch bei mir die Kindheit eine
ganz entscheidende Rolle:
Ich entstamme einem streng sozialdemokratischen Elternhaus. Sozialdemokratisch
im Brandtschen Sinne. Gewerkschaftlich nicht nur organisiert, sondern
auch aktiv. Wo Kinder früher unschuldig „Im Frühtau
zu Berge“ singen mussten, proklamierte ich bereits als Knabe
„Roter Wedding, grüßt euch Genossen, haltet die
Fäuste bereit“.
Die Kumpels inner Schule haben immer ganz blöde geguckt. Fernseher
hatten wir keinen. Desdewesche verließ ich am Wochenende oftmals
sozialistisches Terrain, schwang mich auf meinen Red Blitz und radelte
zu Oma Dora und Opa Hans. Denn die hatten Fernsehen. Nur sonntags
kam damals kinderkompatibles Programm. Nach dem Mittagessen musste
ich allerdings zunächst das „Sonntagskonzert im ZDF“
über mich ergehen lassen. Oma war die Chefin. Was bekam ich
damals zu sehen und zu hören? Menschen, die traurig guckten
und noch traurigere Musik auf Bratschen und Oboen machten und hörten.
Da durfte keiner lachen, schwitzen, mit nacktem Oberkörper
rumhüpfen – kurz Spaß haben – und im Publikum
hatten fast alle die Augen zu. Und ich wusste schon damals, dass
die pennten und nicht zuhörten. Und das ist heute auch noch
so.
Klassische Musik miefte für mich als Kind immer nach Omas
Kleiderschrank. Meine Eltern haben auch ‘n bissle Klassik
gehört. Den Mozart, den Ludwig van, die depressiven Russen
und die schwermütigen Tschechen. Da waren mir die Arbeiterlieder
lieber. Muss man ja auch in historischem Kontext sehen: Vietnamkrieg,
Kiesinger, Schah, FJS und so weiter. Da konnte ich mit der „Internationalen“
oder dem Degenhardt schon mehr anfangen. Da verstand ich wenigstens,
um was es ging. Und ich stellte vor allem fest, dass es Menschen
gab, die so was mit Tränen in den Augen anhörten, statt
in steifer Kleidung in einer Konzerthalle einzupennen.
Tja, und als dann die Pubertät und die Rockmusik kamen, war
der Klassikzug endgültig ins Museum für Unwichtigkeiten
abgefahren. Ich hab’ später immer mal wieder Versuche
unternommen, mich der Klassik zu öffnen. Ich habe sogar ein
paar Klassik-CDs im Regal stehen. Selbst gekauft. Ehrlich. Ludwig
van, Brahms, Strawinsky, Rachmaninoff.
achmaninoffs 2. Klavierkonzert in c-minor hör’ ich ab
und an ganz gerne. Da krieg’ ich sogar Bilder vors Auge. Das
war‘s aber auch schon. In Operetten bin ich sogar gegangen!
„Die Blume von Hawaii“. Das war die 78er- oder 79er-Aufführung
des Stuttgarter Skandalintendanten Claus Peymann. Hahahaha, was
hatten wir Spaß. Was hatten wir einen Spaß! Und hektoliterweise
Wasser auf unsere antiklassizistischen und antiamerikanischen RAF
äh Mühlen. Da war nix mit Sonntagsschläfchen halten
und inner Pause Schampus schlürfen. Inkontinente Muttis drückten
ängstlich ihre Handtaschen an ihren wogenden Busen, weckten
ihre senilen Greise und verließen entrüstet das Theater.
Ein sehr schönes und lustiges Erlebnis war das.
Das Schlimmste an der Klassik ist für mich aber nicht das
Bratschengekratze. Das kann man, entsprechende Mentalstärke
oder Abgestumpftheit vorausgesetzt, aushalten. Der Moment, in dem
ich mich fühle wie Anthony Burgess’ Alex auf dem Ludovico-Stuhl
in „Clockwork Orange“, ist der, wenn dann auch noch
gesungen wird. So mit Schmackes. Da ist dann bei mir der Ofen aus.
Alter Schwede. So muss sich das anfühlen, wenn dir einer die
überlange Nadel zum einen Ohr rein und zum anderen wieder rausführt.
Oder kleine Glasscherben in die Ohren stopft und anschließend
mit einer Gabel über die Schiefertafel kratzt. Aaaaaaaargh.