Ein Gespräch mit Gerald Mertens, Geschäftsführer
der Deutschen Orchestervereinigung (DOV)
Hauptaufgabe der Deutschen Orchestervereinigung (DOV) ist es, vorrangig
durch Abschluss von Tarifverträgen die wirtschaftlichen und
sozialen Rahmen- und Arbeitsbedingungen für Musiker in Kulturorchestern
und Rundfunkklangkörpern sowie für Rundfunkchorsänger
zu sichern und zu verbessern. Die DOV versteht sich auch als Berufsverband,
der sich um alle Belange des Berufsstandes kümmert. Ob es sich
dabei um den Erhalt von Orchestern und Theatern in der Region, die
Prävention spezifischer Berufserkrankungen oder um die Darstellung
des Berufsstandes in der Öffentlichkeit handelt. nmz-Herausgeber
Theo Geißler unterhielt sich mit Gerald Mertens, Geschäftsführer
der DOV, über die heutigen Aufgaben des seit 1952 existierenden
Berufsverbandes.
Gerald Mertens. Foto: Archiv
nmz: Außerordentlich kostengünstige
und dabei bestens ausgebildete „Konkurrenz“ aus den
EU-Beitrittsländern stellt gewachsene deutsche Tarifstrukturen
im Orchesterbereich in Frage, schüttelt eine traditionsreiche
Kulturlandschaft durch. Dazu kommt die bevorstehende Verabschiedung
der EU-Dienstleistungsrichtlinie. Würde das Herkunftslandsprinzip
das Territorialprinzip ersetzen, wäre doch auch der Tarifstandard
der Orchestermusiker in Deutschland bedroht. Was wollen Sie tun? Gerald Mertens: Der Tarifstandard in Deutschland
ist zunächst wohl nicht unmittelbar bedroht, allerdings wären
Wettbewerbsverzerrungen durch Lohndumping zu befürchten. Nach
dem vorliegenden Entwurf der Dienstleistungsrichtlinie könnte
jemand auf die Idee kommen, zum Beispiel in Portugal ein „Unternehmen
für Orchesterdienstleitungen“ zu errichten und dann nach
portugiesischem Recht europaweit Musiker oder ganze Orchester zu
geringen Löhnen und Sozialstandards zu engagieren und anzubieten.
Das wäre das Aus für die gewachsene Musikkultur in Deutschland
und anderswo. Erfreulich ist, dass inzwischen sowohl die Bundesregierung
als auch Frankreich, durch Verbände und Gewerkschaften sensibilisiert,
den Richtlinienentwurf eindeutig ablehnen.
nmz: Wie schätzen Sie den „Fall Volker
Hartung und die französische Gewerkschaft“ ein? Ausnahme
oder bald die Regel? Planen Sie ein ähnliches Vorgehen wie
die französischen Gewerkschaftskollegen? Mertens: Der Fall des Dirigenten Volker Hartung
ist schon ein wenig außergewöhnlich. Als er zum ersten
Mal im letzten Jahr in Nantes und Nizza Probleme mit den französischen
Behörden wegen Verstoßes gegen die dortigen Gesetze bekam,
dachte man noch, das wäre ein Einzelfall. Als er jetzt in Straßburg
mit seiner „Jungen Philharmonie Köln“ auftrat und
anschließend erneut in Polizeigewahrsam genommen wurde, stand
fest, da steckt mehr dahinter. Die Vorschriften für Orchestertourneen
mit ausländischen Musikern sind in Frankreich strenger als
in Deutschland. Nach den letzten Aussagen von Herrn Hartung waren
die Musiker seines zusammen- gewürfelten Orchesters diesmal
überwiegend Studenten aus Deutschland, die auch mehr als 30
Euro pro Tag von ihm bekommen haben sollen. Das dürfte nun
aber verschiedene Behörden auch in Deutschland interessieren,
zum Beispiel die Künstlersozialkasse, die Bundesagentur für
Arbeit, die Verwaltungsberufsgenossenschaft oder die Bundesversicherungsanstalt.
Schließlich ermitteln Behörden in Deutschland auch von
Amts wegen. Warten wir es ab.
Kulturauftrag
nmz: EU-Themen sind nicht die einzige Malaise,
mit der die deutschen Kulturorchester zu kämpfen haben. Die
Orchesterlandschaft wird auch im eigenen Land zerstört. Beispiele:
Münchner Rundfunkorchester oder die SWR Klangkörper. Verzichtet
der öffentlich-rechtliche Rundfunk auf seinen Kulturauftrag?
Mertens: In der Tat hat die gegenwärtige Infragestellung
einzelner Rundfunkensembles bislang unvorstellbare und extrem populistische
Züge angenommen. Nachdem die Ministerpräsidentenkonferenz
den Vorschlag zur Erhöhung der monatlichen Rundfunkgebühren
der KEF von 1,09 Euro auf 88 Cent reduziert hatte, war dies für
einzelne ARD-Intendanten der Vorwand, jetzt deutliche Einschnitte
bei den eigenen Klangkörpern vorzunehmen. Botschaft eins: Wer
im Funk Ensembles abbaut, beweist nach außen hin einen eisernen
Einsparwillen. Botschaft zwei: Schuld daran sind die Ministerpräsidenten,
die den ARD-Anstalten zu wenig Geld gewähren. Selten habe ich
bei einzelnen Intendanten und Hörfunkdirektoren so viele Krokodilstränen
fließen sehen. Tatsache ist: Die öffentlich-rechtlichen
Rundfunkanstalten verfügen ab April 2005 über mehr als
sieben Milliarden Euro Gebührenaufkommen im Jahr. Die Kosten
für das künstlerische Personal der vierzehn Rundfunkorchester,
vier Big Bands und sieben Chöre betragen etwa 155 Millionen
Euro, das sind gerade einmal 2,2 Prozent. Meine Meinung: Wer die
Rundfunkensembles kaputt spart, will damit nur von anderen Baustellen
wie Verwaltungsapparat, Onlinediensten und Sportrechten ablenken.
nmz: Die Erhaltung einer lebendigen Orchesterlandschaft
fängt bei der Jugend an. Welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrer
Initiative „tutti pro“? Mertens: „tutti pro“ ist eine gemeinsame
Initiative der DOV und von Jeunesses Musicales Deutschland, die
unglaublich eingeschlagen hat. Das Interesse von Profiorchestern
und Jugendorchestern zur Begründung einer formellen Orchesterpatenschaft
ist überwältigend. Für die Mitglieder von Jugendorchestern
sind professionelle Orchestermusiker der Berufsorchester motivierende
Vorbilder. Die Partnerschaft mit einem Profiorchester erhöht
die Attraktivität des jeweiligen Jugendorchesters und kann
dessen Leistungsfähigkeit deutlich steigern.
Die Berufsorchester finden in Jugendorchestern begeisterungsfähige
„Fans“ und ein beständig nachwachsendes sachkundiges
Stammpublikum mit Zukunft. Orchestermusiker können in Kontakten
zu einem Jugendorchester selbst interessante Aufgaben finden. Das
Spektrum reicht von der Leitung von Stimmproben durch einzelne Berufsmusiker
bis hin zu gemeinsamen Auftritten beider Orchester. Die erste Patenschaftsurkunde
haben wir am 23. Dezember 2004 in Berlin der Deutschen Streicherphilharmonie
und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin verliehen. Zwischen beiden
Orchestern gab es schon eine längere erfolgreiche und vorbildliche
Zusammenarbeit. Weitere Urkundenverleihungen stehen für 2005
an.
nmz: Gibt es noch weitere Kooperationen kulturpolitischer
und pädagogischer Art? Mertens: Gemeinsam mit dem Verband deutscher Schulmusiker
(vds) und dem Arbeitskreis für Schulmusik (AfS) haben wir das
„Netzwerk Orchester & Schulen“ ins Leben gerufen.
Hier stellen wir Kontakte zwischen Schulen, Musiklehrern und Orchestern
her. Bundesweit sind im Netzwerk rund 250 Ansprechpartner der Lehrerverbände,
der Schulen und aller Ensembles, also Konzert- und Theaterpädagogen,
aber auch Orchestermusiker, eingebunden. Als besonders begehrt und
erfolgreich erweisen sich dabei Fortbildungsseminare für Orchestermusiker,
die in Schulklassen gehen. Für diese Weiterbildungsangebote
– auch im Bereich Orchestermanagement und -marketing –
kooperieren wir eng mit der Bundesakademie für kulturelle Bildung
in Wolfenbüttel. Allen sonstigen schlechten Nachrichten zum
Trotz: Im Bereich von Education und Musikvermittlung erleben wir
eine echte Aufbruchstimmung.
nmz: Was ist unter dem Hermann-Voss-Kulturpreis
und dem geplanten „Junge Ohren Preis“ zu verstehen? Mertens: Der renommierte Hermann-Voss-Kulturpreis
wird von der DOV alle drei Jahre verliehen und ist mit 5.000 Euro
dotiert. Bisherige Preisträger waren beispielsweise der seinerzeitige
Gewandhauskapellmeister Kurt Masur oder WDR-Intendant Fritz Pleitgen.
Die DOV würdigt mit der Preisverleihung Persönlichkeiten,
die sich mit ihrem Handeln um den Erhalt und die Entwicklung der
deutschen Orchester- und Rundfunkchorkultur verdient gemacht haben.
Die nächste Preisverleihung steht im Rahmen der Deutschen Orchesterkonferenz
am 16. Mai 2006 in Bochum an. Mit dem neuen „Junge Ohren Preis“
wollen DOV und Jeunesses Musicales ab der kommenden Spielzeit bundesweit
innovative und vorbildliche Kinder- und Jugendkonzertprojekte prämieren.
Wir hoffen, dass dies der Musikvermittlungsbewegung in Deutschland
noch weiteren Schwung verleiht und dass der Preis bald so begehrt
sein wird, wie der des Deutschen Musikverlegerverbandes zum besten
Konzertprogramm.
Netzwerk junge Ohren
nmz: Die Jeunesses Musicales hat in Kooperation
mit der Deutschen Orchestervereinigung und dem Deutschen Musikrat
eine Bedarfsanalyse „Netzwerk Junge Ohren“ erstellt.
Welche Konsequenzen könnte/sollte diese Untersuchung haben? Mertens: Die Untersuchung dokumentiert sehr detailliert,
dass es in Deutschland noch einen erheblichen Nachholbedarf im Bereich
der Kinder-, Jugend- und Schularbeit der Musiktheater und Orchester
gibt. Sie belegt auch, wo konkret angesetzt werden muss, um Information
und Kommunikation für Musikvermittlung und Education zu verdichten
und zu verbessern. Ich gehe davon aus, dass es uns gelingen wird,
mit weiteren Partnern die Netzwerkstelle noch im Jahr 2005 zu errichten.
nmz: Thema Hochschulausbildung der Orchestermusiker:
Wird nicht am Markt vorbei ausgebildet? Versagt die Hochschule?
Und wenn ja, warum? Welche Wünsche haben Sie an die deutschen
Hochschulen? Wird mit Bologna alles anders? Mertens: Durch den Bologna-Prozess, also die Einführung
europaweit kompatibler Bachelor- und Masterstudiengänge und
-abschlüsse, dürfte sich auch in den deutschen Musikhochschulen
einiges ändern. Was sich nicht ändert, ist die Berufungspraxis
der Hochschulen: Viele verpflichten immer noch große Instrumentalsolisten
mit wohlklingenden und schmückenden Namen – gerade im
Bereich der hohen Streicher. Das ist gut für das Renommee der
Hochschule. Diese Lehrer, oft ohne eigene Orchestererfahrung, bilden
wiederum ihre Studenten überwiegend als Solisten, aber nicht
für das Orchesterspiel aus. Auch findet eine echte Evaluation,
das heißt eine Überprüfung, wie viele Musikstudenten
eines Lehrers anschließend auch wirklich einen Job finden,
für den sie studiert haben, nicht statt. Es ist aber auch vieles
in Bewegung geraten: Einige Hochschulen, längst noch nicht
alle, kooperieren mit örtlichen Berufsorchestern; das neue
„Orchesterzentrum Nordrhein-Westfalen“ in Dortmund bildet
als Gemeinschaftseinrichtung der NRW-Musikhochschulen zukünftig
ganz gezielt für das Orchester aus.
nmz: Die DOV hat für die ausübenden
Künstler Leistungsschutzrechte erkämpft. Damit werden
den Interpreten ähnliche Rechte zuerkannt wie den Urhebern.
Für die Nutzung dieser Rechte hat die DOV zusammen mit dem
Verband der Schallplattenindustrie im Jahr 1959 die Gesellschaft
zur Verwertung von Leistungsschutzrechten (GVL) gegründet.
Was sind die aktuellen Aufgaben – oder auch Bedrohungen –
für die GVL? Mertens: Die GVL beteiligt sich entschieden an
Maßnahmen gegen Tonträgerpiraterie und illegale Online-Nutzungen.
Sie versucht unter anderem die berechtigten Ansprüche von ausübenden
Künstlern, die durch Nutzung ihrer Aufnahmen entstehen, effizient
geltend zu machen, zum Beispiel auch im Bereich der Internetradios.
Aufmerksam verfolgen wir die Pläne der EU, die in ihrer Harmonisierungswut
auch die Arbeit der nationalen Verwertungsgesellschaften beeinträchtigen
könnte.
nmz: Was wünschen Sie sich für die
Zukunft der DOV? Mertens: Ich wünsche mir eine noch stärkere
Vernetzung mit anderen Kulturpartnern und dadurch auch eine größere
öffentliche Wahrnehmung unserer Anstrengungen für den
Erhalt der deutschen Orchester- und Musikkultur.