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Ausgabe 2006/03
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nmz 2006/03 | Seite 16
55. Jahrgang | März
Forum Musikpädagogik

Fünf Jahre „Reise in die Musik des 21. Jahrhunderts“

Sieben Komponisten erarbeiten mit sieben Klassen allgemein bildender Schulen sieben Kompositionen

Der „Landesmusikrat Hamburg“ hat in Kooperation mit dem Komponisten Burkhard Friedrich dieses Jahr zum fünften Mal die inzwischen in der Hansestadt Hamburg gut etablierte „Reise in die Musik des 21. Jahrhunderts“ veranstaltet. Die dabei entstandenen Kompositionen wurden am 22. Juni 2005 in der kleinen Musikhalle vor nahezu ausverkauftem Saal uraufgeführt.

Schüler des Coppernicus-Gymnasiums spielen ihr Werk. Foto: LMR-Hamburg

Bild vergrößernSchüler des Coppernicus-Gymnasiums spielen ihr Werk. Foto: LMR-Hamburg

Das Projekt hat in der Landschaft der musikpädagogischen Innovationen bundesweit eine nahezu einzigartige Position, haben doch alljärlich circa 72 Schüler die Möglichkeit, einen Einblick ins Komponieren zu bekommen, Berührungsängste mit Neuer Musik abzubauen und die erarbeitete eigene (!) Komposition selbstständig in einem festlichen Abschlusskonzert uraufzuführen. Das sind innerhalb der vergangenen fünf Jahre immerhin 360 Schüler von 35 Schulen, die das Projekt erreicht hat. Eine beträchtliche Zahl, wenn man bedenkt, dass nach wie vor der Musikunterricht im Schulalltag eine marginale und teilweise sogar überhaupt keine Rolle spielt. Die „Reise in die Musik des 21. Jahrhunderts“ hat den Musikunterricht an den Schulen, die teilgenommen haben, zumin-dest für die Dauer des Projektes grundsätzlich verwandelt und ihm auch für die Zeit danach neue Perspektiven gegeben. Dafür hat das Konzept auch 2004 im Rahmen des Förderpreises „INVENTIO“ des Deutschen Musikrates und der Stiftung „100 Jahre YAMAHA“ aus der Hand des Bundespräsidenten einen Preis erhalten.

Die Innovation liegt in der Integration von unmittelbaren produktiven und kreativen Kompositionsprozessen in den Alltag des Unterrichts, bei denen die Schüler nicht nur Neugierde auf die eigenen musikalischen Möglichkeiten entwickeln, sondern ganz konkret lernen, sich über das Komponieren auszudrücken und über das Komponiernen und Improvisieren mit den Mitschülern zu kommunizieren.

Den Lehrkräften dient das Projekt als unerwartete Fortbildungsmaßnahme in der bisher an den Hochschulen eher nicht vertretenen „Didaktik der Komposition“. Ihnen werden Kompositionskonzepte und -modelle geboten, die sie im weiteren Verlauf ihres Musikunterrichts anwenden und erweitern können. Die Musik des 21. Jahrhunderts kann auf diese Weise einen zentralen Stellenwert im Musikunterricht erhalten und damit dem Lehrplan eine neue Dimension hinzufügen. In diesem Sinne haben Lehrkräfte wie Schüler das Projekt einstimmig als notwendig und absolut fortsetzungswürdig bewertet.

Dieses Jahr waren Schüler im Alter von 11 bis 20 Jahren beteiligt, vertreten waren also die Klassenstufen 10 bis hin zu Abiturienten, die ihre jeweilige Komposition parallel zum Abitur ausgearbeitet haben. Die Komponist/-innen, dieses Jahr unter ihnen Hans Christian von Dadelsen, Jan Feddersen, Sascha Demand und das Komponisten-Performance-Duo John Eckhardt und Kathrin Bethge, hatten wie jedes Jahr laut Ausschreibung die Aufgabe, mit den Schülern eine von ihnen ausgedachte musikalische/kompositorische Idee mit Neuer Musik des 21. Jahrhunderts zu realisieren. Dabei stand und steht im Vordergrund, dass die Gruppe mit dem so genannten „leeren Blatt“ beginnt und der begleitende Komponist eher als Mentor und Wegbereiter denn als Vermittler einer kompositorischen Sprache dient. Ei-nerseits muss den Schülern zunächst einmal Vertrauen in die eigene kreative Kompetenz vermittelt werden, jedoch benötigen sie andererseits auch Freiraum zur Entwicklung und Umsetzung der eigenen Ideen und Konzepte, um das Ziel, dass sie sich ja selbst durch die Beschreibung ihres Wunschprojektes gesetzt haben, zu erreichen. Dabei ist es letzten Endes auch Sache der Schüler – natürlich in Abstimmung mit den Ideen des Komponisten – ob im interdisziplinären Bereich gearbeitet wird. Der wesentlichste Aspekt für solch eine Entscheidung liegt im Anspruch an das Originäre und der Authentizität der zu erarbeitenden Komposition: 90 Prozent der Schüler beschäftigen sich im Alltag mit Pop-Musik, die restlichen 10 Prozent spielen konventionelle klassische Musik in Schul- oder Jugendorchestern. Der konkrete Kontakt mit Neuer Musik ist faktisch nicht vorhanden. Folglich liegt es nahe, dass die musikalischen Mittel zur Realisation in den meisten Fällen aus dem konventionellen, bekannten Musikbereichen stammen. Kurz: Es herrscht bei den Schülern oft die Meinung, die gewünschte Komposition mit den Mitteln zu erarbeiten, die sie meistens hören beziehungsweise im Orchester spielen, die also bekannt sind. Damit würde eine eher reproduktive als produktive Arbeit ihren Lauf nehmen, der Einblick und der Weg in den Umgang mit den Klängen unserer Zeit wäre verschlossen, das Authentische läge – wenn überhaupt – lediglich in der Auswahl und im Arrangieren der bekannten Muster.

Hier nun ist der begleitende Komponist mit seinem pädagogischen Know-how und seinem kompositorischen Weitblick gefragt, der Schülergruppe eine Perspektive aufzutun, das Ziel, das sie sich selbst gesetzt hat, mit „ungehörten“, sprich: unkonventionellen Mitteln zu erreichen, also konkret der „Reise“ – nämlich in unbekannte Klanggefilde – gerecht zu werden.

Im Programm der diesjährigen „Reise in die Musik des 21. Jahrhunderts“ hat sich überraschenderweise eine vielfältige Suche nach neuen Klangmöglichkeiten herauskristallisiert, so dass der Titel „Klangforscher“ des Projekts der Komponistin Dodo Schielein und ihrer 5. Klasse als Gesamtbezeichnung dienen könnte. Im Folgenden einige kurze Darstellungen aus dem Gesamtprogramm: Die erwähnte Suche hat bei dem Projekt von Dodo Schielein zu unmittelbarem Umsetzen von Bildern, Stimmungen, Erlebnissen aus der Phantasie und dem Alltag der Kinder auf Instrumenten geführt, die sie selbst ausgewählt haben. Die Klasse wurde in acht Gruppen á drei bis vier Kinder geteilt, die jeweils ihre Kompositionen erarbeiten sollten. Dodo Schielein hat im Verlauf der einzelnen Kompositionsprozesse Formen und Strukturen vermittelt, die es den Kindern ermöglichten, die kompositorischen Fortschritte mit einer gewissen Distanz zu betrachten und sich auch von den unterschiedlichen kompositorischen Entwicklungen der Mitschüler inspirieren zu lassen.

Ganz anders haben ein Grundkurs des 12. und 13. Jahrganges zusammen mit dem Komponisten Sascha Demand Klangforschung betrieben. Den Schülern war es sehr wichtig, eine Komposition mit Sprache und Klängen aus der Neuen Musik, eventuell auch Musiktheaterszenen zu erarbeiten. Sascha Demand bot ihnen als Inspiration Texte des erst kürzlich verstorbenen Philosophen Jacques Derrida an. In diesen Texten geht es weniger um die inhaltliche Bedeutung als um den Klang der Sprache, der sich grundsätzlich ändert, wenn man Texte und Worte von rechts nach links liest. Daraus hat die Gruppe eine kompositorische Ästhetik der Gegenwärtigkeit des Klingens entwickelt und diese auf Sprachfragmente und selbst ausgesuchte Instrumente und Klangkörper übertragen. Das Besondere an dieser Kompositon war die Stille, in die Klänge und Laute tropften, was eine Gegenwärtigkeit des Klanges verursachte, der man sich nicht entziehen konnte; Klangforschung an den Wurzeln gepackt.

Neben der Dimension einer neuen musikalischen Qualität des Lehrplans des Musikunterrichts ist die soziale Komponente des Projekts „Reise in die Musik des 21. Jahrhunderts“ nicht zu unterschätzen. Komponieren + Improvisieren = Kommunizieren; so könnte die Formel lauten, die jedes einzelne Kompositionsprojekt in der „Reise“ zu einem sozialen Ereignis werden läßt. Der Umgang miteinander unter 12- bis 17-Jährigen kann in der Regel nicht als sensibel, einfühlsam bezeichnet werden, ebenso wenig ist er vom Interesse am Gegenüber geprägt. Der Kontakt untereinander geht über die bekannten Verhaltensmuster selten hinaus. Ein Kompositionsprojekt bringt hier die Möglichkeit mit sich, zu lernen, AUFeinander zu hören und MITeinander zu kommunizieren beziehungsweise zu musizieren. Das heißt, dass über das kammermusikalische Erlebnis ein Umgang miteinander erfahren, erkannt und begriffen werden kann, der sein Zentrum im Wahrnehmen und Respektieren des Gegenübers hat. Ein außergewöhnliches Beispiel für diese integrativen sozialen Prozesse bot eine 6. Klasse, die zusammen mit dem Komponistenduo Cola Rerát und Ole Hoffmann eine dreiteilige Komposition entwickelt hat, in der es um das Kommunizieren über musikalische Ereignisse ging. Diese Teile waren von Wechseln von „Solo“ und „Tuti“ geprägt. Also hatten die Schüler die Aufgabe, miteinander als Ganzes oder in Kleingruppen musikalische Prozesse in Gang zu setzen, aber auch auf die individuellen Ideen ihrer Mitschüler zu hören und diese in das Gesamtgeschehen einzubinden. Hatte die Klasse am Beginn ihrer Arbeit mit den Komponisten extreme Disziplinprobleme, die teilweise nur von einer begleitenden Sozialpädagogin gelöst werden konnten, so ist ihr im Verlauf des Projektes eine unerwartete integrative Sozialisation gelungen, die eine soziale Stabilität untereinander mit sich gebracht hat, die wiederum Perspektiven für den gesamten zukünftigen Unterrichtsalltag bietet.

Das Duo John Eckhardt (Komposition) und Kathrin Bethge (Visuelle Kunst) haben mit einem Musikwahlkurs, der mitten im Abitur stand, das Projekt „shapes of the city“ realisiert und damit einen interdisziplinären Anspruch umgesetzt, der bei den Schülern auf großes Interesse gestoßen ist. Gemeinsam mit den Schülern, mit Mikrofonen und MiniDisc-Player, haben sich die „Mentoren“ auf Klangspurensuche in Hamburg begeben und Aufnahmen aus den unterschiedlichsten Locations mitgebracht. Im Musikunterricht wurden die Klangereignisse auf ihre Qualitäten und Parameter hin analysiert und teilweise imitiert, aber auch darüber improvisiert. Hierbei haben die Schüler gelernt, sich einer-seits auf ihren jeweilig ausgesuchten Klang zu konzentrieren und diesen so perfekt wie möglich zu imitieren, andererseits mit den Mitschülern über die Klänge in Kontakt zu treten und zu kommunizieren. Im Verlauf dieser Arbeit am Klang wurden visuelle Ideen kreiert und per Overhead-Projektor und Video-Beamer laborartig entwickelt. Bei allen Uraufführungen sind gestandene Kompositionen herausgekommen, die sogar teilweise in Partitur vorliegen und somit von einer anderen Schülergruppe realisiert werden können, dann aber auch spannenderweise anders klingen werden. Diese Form der Dokumentation hat einen einzigartigen Wert, gibt sie doch Auskunft über die Identifikation der jeweiligen Gruppe mit der von ihr geschaffenen Musik.

Finanziert und damit ermöglicht wurde die „Reise in die Musik des 21. Jahrhunderts“ 2005 von der Kulturbehörde Hamburg, der Behörde für Bildung und Sport, der „Feldtmann-Kulturell-Stiftung“, dem Verein „Kinder helfen Kindern“ des Hamburger Abendblattes, sowie der Gerhard-Trede-Stiftung.

Das sechste Jahr im Bestehen der „Reise“ ist finanziell noch nicht gesichert, leider scheinen die Bildungs- und die Kulturbehörde Hamburg noch nicht erkannt zu haben, dass es sich bei diesem Projekt um eine absolute Notwendigkeit im Schulalltag handelt, die in der Bundesrepublik bisher nahezu einzigartig ist. Zu wünschen wäre ein eigener Haushaltstitel unter dem Motto: „Komponist/-innen in die Schulen“, der es jeder Schule jederzeit ermöglichen würde, einen Komponisten oder eine Komponistin für einen vorher abgesprochenen Zeitraum einzuladen, mit einer Gruppe von Schülern eine Komposition zu erarbeiten.

Burkhard Friedrich

 

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