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nmz-archiv
nmz 2006/03 | Seite 15
55. Jahrgang | März
Gegengift
Die nackte Wahrheit
Wovon handelt die Kunst? Erst jüngst entzündete sich
an dieser Frage eine heftige Debatte, die mitten hineinführte
ins mehr oder minder finstere Herz unserer Gegenwart. Die Kulturen
krachen aufeinander. Und anders als beim kämpferischen Zivilisationstheoretiker
Samuel Huntington sind die Fronten nicht klar und übersichtlich,
sondern die Bruchlinien ziehen sich mitten durch unsere Gesellschaft,
ihre diversen Milieus, ja selbst durch einzelne Subjekte. Die feuilletonistisch
vollzogenen Selbstdefinitionen beziehungsweise, wie Nietzsche es
genannt hätte, Wertschätzungen und Wertsetzungen folgen
dabei der alten Regel des Philosophen Spinoza: „Omnis determinatio
est negatio“. Soll heißen: Im heftigeren Klima des neuen
Kulturkampfes kommen „wir“ zu uns, indem wir andere
und anderes ausschließen. Jede Entscheidung von einem gewissen
existenziellen Ernst vernichtet alle anderen Möglichkeiten.
Mit den frivolen und ironischen Strategien der Dekade vor dem 11.
September scheint es einstweilen vorbei. Und vielleicht war das
„Attentat“ auf die Börseneuphorie inklusive des
Kollapses der an der wundersamen Geldvermehrung hängenden narzisstischen
Lebensformen entscheidender als der Einschlag fremdgesteuerter Flugzeuge
in eine der Zentralen westlichen Wirtschaftens. An die Stelle des
mehrdeutigen Übermuts tritt eine neue Wahrheits- und Werte-Entschlossenheit.
Dieser Fundamentalismus, der immer schon weiß, was (für
alle) richtig und notwendig ist, verbindet sich aber mit einer merkwürdigen
Scheu. Man will „die“ Wahrheit, aber man will sie beileibe
nicht „nackt“. Im FAZ-Feuilleton findet seit mehr als
einem Jahr ein merkwürdiger Kreuzzug gegen die Kultur der Entblößung
statt, für die vor allem der eloquente Theaterkritiker Gerhard
Stadelmaier und die höchstempfindliche Ballett-Beschreiberin
Wiebke Hüster stehen. Deren These ließe sich so zusammenfassen:
Wer „alles“ zeigt, (zer)stört nicht nur das ästhetische
Vergnügen, sondern vernichtet die Kunst und, mehr und schlimmer
noch, die Welt, auf die sie sich darstellend bezieht.
Was sich hier, kämpferisch und mit einem gewissen Vernichtungswillen
ausgestattet, präsentiert, ist die säkulare Entsprechung
zu dem uralten Bilderverbot der Hochreligionen, vor allem des Judentums
und des Islams. Wer Gott zeigt, treibt Schindluder mit ihm, verwandelt
sich gewissermaßen in einen Götzendiener. Wer Mohammed
„vorführt“, sei es in einer Erzählung (wie
einst Salman Rushdie) oder im per se verzeichnenden Bild (wie jüngst
im Karikaturenstreit), macht sich eines Übergriffs schuldig.
Wer das Höchste „nackt“ vorführt, muss mit
explosiven Reaktionen rechnen. Das rationale Moment daran ist die
Vermeidung des Fetischismus, also der Vernichtung der Transzendenz
durch ihre Aneignung. Jeder dieser Versuche ist schändlich
und sündhaft, nicht nur der kritische oder polemische. Judentum
und Islam sind sich einig, dass sich das Transzendente der Darstellung
entzieht.
Was aber macht die Feuilletonisten so wütend, wenn es um
die „nackte“ Wahrheit auf dem Theater geht? Warum ist
es so wichtig, dass der Körper nicht gezeigt wird, sondern
entzogen bleibt? Die vordergründige Behauptung, dass das Nackte
banal sei, verträgt sich nicht mit der Erfahrung, dass sie
für heftige Erregung sorgt. Wenn man Gerhard Stadelmaier ernst
nimmt – und in ihm nicht nur den Kostüm- und Maskenfan
vermutet, als der er sich gelegentlich kostümiert und maskiert
– , dann scheint er der Ansicht zu sein, dass es bestimmte,
äußerste Wahrheiten gibt, denen man sich nicht direkt,
sondern nur metaphorisch, im Spiegel der Repräsentation nähern
kann. Deutet man ihn so, dann wird auch seine scheinbar paradoxe
Haltung dem neuesten Botho-Strauß-Stück „Schändung“
gegenüber halbwegs verständlich. Stadelmaier ist ja nicht
der kulturkritischen und meist nur auf mangelnder Sachkenntnis und
fehlendem historischen Bewusstsein beruhenden Ansicht, dass es „das“
früher nicht gegeben hätte. Er weiß durchaus, dass
die neueste „Schändung“ in ihrem Vorbild, Shakespeares
„Titus Andronicus“, ihren Meister findet. Weder Strauß
noch seine Regisseure verzeichnen den Text der blutigen Geschichte.
Sie zeigen, was geschrieben steht. Aber offenbar verletzen sie damit
ein Tabu und rühren an ein Trauma. Am hysterischen Sub-Text
von Wiebke Hüsters Kritiken offenbart sich, dass die „heilige“
und das heißt immer auch: die fürchterliche Nacktheit
mit Auslöschung gleichgesetzt wird. Wer mitten hineinsieht
in die „Sonne“, wird nicht sehend, sondern blind.
Und die Musik? Ist spätestens seit Schopenhauer das Medium,
in dem sich zeigt, was sich sonst nirgends zeigt, also das Welt-
und Selbst-Innerste, der dunkle Drang, der den Dingen der Erscheinungswelt
nicht nur vorausgeht, sondern sie hervortreibt. Allen plastischen,
machtbewussten Zeitaltern war die Musik verdächtig: als auflösende
Kraft, nicht nur als Erlösungs-, sondern geradezu als Jenseitsdroge,
als die sie in Richard Wagners transzendentalen Gesamtkunstwerksopern
erscheint. Führt der Tristan-Akkord in einen Bereich, aus dem
keiner unversehrt zurückkehrt? Bei Leonard Cohen ist die heilige
Nacktheit die Schaltstelle der meisten seiner Songs, die ihrerseits
Bibel-Paraphrasen sind. „Naked“ ist bei ihm das Losungswort,
das einem die Passage in den heiligen Bereich ermöglicht. Wiebke
Hüster aber vermutet dort eine traumatische Hölle, die
ihr Wesen verzerrt und fragmentiert, der „Heide“ Stadelmaier
dagegen ein Nichts, das weder den Einsatz öffentlicher Gelder
noch seiner wertvollen Abendstunden rechtfertigt.