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nmz-archiv
nmz 2006/03 | Seite 8
55. Jahrgang | März
Magazin
Das Rationale, das Emotionale, das Unterbewusste
Roland Spiegel im Gespräch mit dem Bassisten Barry Guy und
der Violinistin Maya Homburger
Ein Bass-Virtuose des Free Jazz und eine Barock-Violinistin: der
Engländer Barry Guy und die Schweizerin Maya Homburger. In
Christopher Hogwoods Academy of Ancient Music lernten sie sich vor
18 Jahren kennen – und realisieren seitdem viele musikalische
Projekte zusammen. Zuletzt unter anderem die CD „Dakryon“
(Maya Recordings MCD 0501) und „Folio“ (ECM New Series
1931), letztere zusammen mit dem Münchener Kammerorchester,
Dirigent Christoph Poppen und Geigerin Muriel Cantoreggi. „Dakryon“
erhielt den Preis der deutschen Schallplattenkritik, „Folio“
in Frankreich den „Choc Jazzman of the month“. Zusätzlich
verlieh das französische Magazin „Jazzman“ Barry
Guy auch einen „Choc of The Year“ für die CD „Oort-Entropy“
mit seinem New Orchestra (Intakt CD 101). Eine große Erfolgsphase
also für Barry Guy, einen Grenzgänger zwischen Barock,
Neuer Musik und freiem Jazz. Die nmz sprach mit ihm und Maya Homburger.
nmz: Barry Guy, seit langem spielen Sie Barockmusik
und Jazz beziehungsweise Neue Musik: Wie war es möglich, diese
beiden Welten zu vereinen?
Sprechen
die Sprache des Barock, der Improvisation und der Neuen
Musik: Homburger und Guy. Foto: ECM Records
Guy: Ich bin ein Opfer meiner eigenen Geschichte.
Als ich Jazz und improvisierte Musik entdeckt hatte, entdeckte ich
wenige Jahre später auch die Barockmusik. In jeder gab es viel
für mich zu erforschen, und es war für mich nie ein Problem,
einerseits alte Musik und andererseits Jazz anzuhören und zu
spielen. Und eines gewann durch das andere. Ich habe zwar nicht
Barock in den Jazz und Jazz in die Barockmusik hineingebracht, aber
diese Musik-Genres haben doch ähnliche Züge in mancher
Hinsicht. Vor allem als ich Monteverdis Marienvesper von 1610 hörte,
eröffnete sich mir eine neue Perspektive über Musik im
Raum. Solche Aspekte interessierten mich für meine Arbeit mit
dem London Jazz Composers Orchestra – was die Idee der Klangwirkungen
in einem großen Ensemble betrifft. Mit beiden Musikwelten
beschäftigte ich mich jeweils einzeln, ich hatte ja auch unterschiedliche
Bässe für den Jazz und den Barock. Es war von daher für
mich nie ein Problem, mit beiden Musikstilen zu tun zu haben. Sie
entwickelten sich in meiner Biographie jede für sich.
nmz: Sind Barockmusik und improvisierte Musik
unterschiedliche Sprachen für Sie, wenn Sie spielen?
Guy: Ja und nein. Sie sind natürlich unterschiedliche
Sprachen, aber an-dererseits war für mich am Anfang Barockmusik
immer genauso neu zu entdecken wie improvisierte Musik – denn
man muss immer neue Schritte tun, um die Musik aufzuführen
und Möglichkeiten der Kommunikation zwischen den Musikern zu
finden. Das ist unglaublich wichtig. Die Spielweise, der Umgang
mit dem Bogen, das ist natürlich unterschiedlich, aber es gibt
eine verwandte Geisteshaltung. Interessant ist es für mich
dort, wo diese Momente sich kreuzen. Das ist nicht Crossover. Es
geht um die Punkte, an denen die Rhetorik die gleiche ist, was wir
als Musiker für Erfahrungen machen. Wenn ich mit Maya Bibers
Rosenkranz-Sonaten spiele, muss ich auf dem Bass eine Möglichkeit
finden, die zur Biber-Interpretation von Maya passt. Ich muss den
Bass auf eine Art spielen, dass er die Rhetorik, die Story ergänzt
– und zwar so, dass es Herr Biber vermutlich geschätzt
hätte. In der „Battaglia“ von Biber wird der Bassist
dazu angehalten, Pergamentpapier zwischen die Saiten zu stecken
und die Saiten mit dem Bogen zu schlagen, um einen Snare-Drum-Effekt
zu erzielen, also den Klang einer Schlachtentrommel zu erzeugen.
Wenn Leute nach einer meiner freien Improvisationen zu mir kommen
und fragen: Warum stecken Sie Drumsticks zwischen Ihre Saiten?,
dann sage ich: Das ist Teil einer alten Tradition.
Maya Homburger: Wenn Barry das Erdbeben in der
Kreuzigungs-Sonate von Biber spielt, da entfaltet sich eine Energie,
die absolut an Donner erinnert – und es ist die gleiche Energie,
die auch bei ganz freier Improvisation entstehen würde. Und
das wird Bibers Absichten durchaus gerecht.
nmz: Auf der Platte „Dakryon“ haben
Sie Barockwerke von Biber und Dario Castello eigenen Kompositionen
und Improvisationen gegenübergestellt. Aber auf „Folio“
ist es ein ganz anderes Herangehen: ein langes Werk, in dem alle
Ausdrucksformen integriert sind.
Guy: „Dakryon“ repräsentiert
fast genau das, was wir in Konzertprogrammen machen. „Folio“
hingegen ist ein Stück von knapp einer Stunde, ursprünglich
ein Auftragswerk. Als ich „Folio“ entwarf, musste ich
nach einem Vehikel für die Form suchen – und nach Material,
das mich dafür inspirieren konnte. Auf meinem Schreibtisch
lag schon seit Jahren jenes Stück von Nikolai Evreinov, das
Theater der Seele“ von 1912. Ein fast surreales Stück
über rationale, emotionale und unterbewusste Vorgänge.
Dieses Szenario habe ich sozusagen in abstrahierter Weise verwendet,
kombiniert mit einigen Traum-Sequenzen, und so ergaben sich für
das Stück gewissermaßen rotierende Zylinder, die diese
Bereiche, das Rationale, das Emotionale und das Unterbewusste, repräsentieren.
Mit Orchester-Teilen, improvisierten Kommentaren der Barock-Violine
und des Kontrabasses sowie einer Anleihe bei der „Recercada
Primera“ on Diego Ortiz von 1553 konnte ich dieses Drama von
etwa einer Stunde schließlich strukturieren, dem Orchester,
Maya und mir dabei Rollen zuweisen und unterschiedlichstes Material
verwenden. Es war eine ziemlich komplexe und interessante Operation.
nmz: Maya Homburger, Sie können die Barock-Geigenstücke
zum Teil frei auswählen während der Aufführung. Sie
improvisieren also auch. Es gibt daneben einen Part für eine
moderne Violine, gespielt von Muriel Cantoreggi, der fest notiert
ist. Was ist denn sonst der wesentliche Unterschied der Behandlung
der beiden Violinparts?
Homburger: Rein technisch gesehen, geht die moderne
Solo-Geige viel höher. Das Griffbrett hört bei der Barockgeige
einfach einige Zentimeter weiter unten auf. Auch mit den Stahlsaiten
kann man viel höher spielen, und es klingt noch immer gut.
Wobei dieses Stück auch für die Barockgeige relativ hoch
komponiert ist. Das ist einer der wesentlichen Unterschiede, dann
gibt es im Part der modernen Violine auch viel mehr Forte und Fortissimo,
aber auch ganz feine Stellen. Es gibt also diesen langsamen Satz,
der sehr hoch ist und sehr fein und zum Teil in Oktaven geschrieben.
Das wäre dann wieder wahnsinnig schwierig auf den Darmsaiten,
das könnte man fast nicht machen. Insofern hat Barry sehr genau
die Möglichkeiten der Instrumente genutzt.
Und er hat auch die Orchesterstellen entsprechend komponiert. Die
moderne Geige muss oft ein sehr volles Orchester noch überstrahlen.
Mein Part hat viel mehr Pianostellen. In der Stimmung richte ich
mich hier natürlich nach dem Orchester, mit dem Stimmton auf
etwas über 440 Hertz; sonst halte ich mich an 415 Hertz. In
der Intonation hat sich Muriel Cantoreggi auch an mich angepasst.
Moderne Geiger neigen dazu, alle Leittöne sehr hoch anzusetzen.
Darauf hat sie nicht bestanden.
nmz: Wir sprachen über Barockmusik, Neue
Musik, Jazz. Barry Guy, passt auch das 19. Jahrhundert in Ihre Welt?
Guy: Vermutlich nicht, das ist merkwürdig.
Ich habe mit Hogwood und Norrington viel Beethoven gespielt. Beethoven
ist großartig, ich mag die Kraft, die in seiner Musik steckt,
und sie zu spielen, war eine tolle Erfahrung. Aber in dem, was danach
kam, habe ich nie so recht eine Heimat gefunden. Beethoven ist für
mich ein Komponist, der immer ,down to earth‘ war, der mit
musikalischen Problemen rang und Lösungen suchte – statt
sich, wie die Romantiker, in göttliche Sphären erheben
zu wollen. Mit seiner Haltung kann ich mich gut identifizieren,
mit der anderen nicht.
nmz: Als ich „Folio“ gehört
habe, hatte ich aber den Eindruck, dass das sehr spirituelle Musik
ist.
Homburger: Für mich sicherlich, gar keine
Frage. Auch „Inachis“, das Sologeigen-Stück, das
Barry für mich geschrieben hat und in „Folio“ eine
Rolle spielt, ist sehr spirituell. Und auch „Ceremony“,
das zitiert wird in „Folio“, ist ein sehr spirituelles
Stück. Es basiert ja auf dem Navajo chant.
nmz: Barry Guy, Sie schreiben also paradoxerweise
Musik, die ,down to earth‘ sein will und trotzdem sehr spirituell
ist?
Guy: Wenn es so herauskommt, dann ist es gut.
Ich fühle mich ganz am Boden der Tatsachen, aber wenn das Stück
so wirkt, dann freut es mich. Dass Interpreten – und vielleicht
auch das Publikum – viel herausziehen können, was können
wir mehr verlangen?