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nmz-archiv
nmz 2006/03 | Seite 7
55. Jahrgang | März
Magazin
Kommentar
Reizwort Leitkultur
Ein „Begriffsunglück“ nannte Claudia Roth seinerzeit
die „Leitkultur“-Debatte. Der neu gewählte Bundestagspräsident
Lammert wagte dennoch, sie wieder aufzunehmen. Eine breit angelegte
öffentliche Diskussion will sich nicht anschließen, denn
der Begriff „Leitkultur“ stößt nach wie vor
auf Ablehnung. Der Diskussionsbedarf, der hinter dem Begriff steht,
wurde anlässlich einer Tagung des Deutschen Musikrates (die
NMZ berichtete) deutlich. Eine „Leitmusik“ aber will
niemand formulieren.
„Leitbilder“ aber sind in deutschen Firmen zur Zeit
höchst angesagt. Brauchen wir nicht auch „Leitplanken“
fürs Kulturleben, die das „Eigene“ definieren im
aktuellen „Einwanderungsland“ Deutschland? Sitzt das
Schreckensbild der Überfremdung im Nacken einer Nation, die
ihre kulturellen Werte selbst nicht ausreichend formuliert? Der
anstößige Begriff einer „deutschen Leitkultur“
übrigens wurde abgeleitet von dem der „europäischen
Leitkultur“. Und den erfand 1998 ein syrischer Schriftsteller,
der sich mit Merkmalen gelungener Integration beschäftigte.
Sollten wir uns davor nicht mit Recht fürchten, denn welcher
Art wäre dann alle andere Kultur, die offiziell nicht leitet?
Etwa „entartet“, oder auch nur weniger schätzenswert?
Wir haben aufgrund der Geschichte Recht, uns davor zu fürchten.
„Europäische Leitkultur“ klingt für deutsche
Ohren schon entspannter, und sie existiert erkennbar, auch anderswo.
In China kommt das Klavierspielen der Klassiker derart in Mode,
dass man die gedrillten Kinder inzwi-schen davor schützen möchte.
Während in Berlin der Multikulti-Bär auf den Tischen tanzt,
erobern Tangotänzer Tübingen, niederländische Blockflöten
kommen aus Brasilien und bayrischen Hoagascht (eine Art der Stubnmusik)
macht man mit dem Hackbrett, einem Instrument, ursprünglich
aus dem alten Persien. Uralte kultur- und musikgeschichtliche Tatsachen
sind das doch, die Mischung machts: Identität wird belebt und
manchmal sogar wiederbelebt durch den Kontakt mit dem Fremden. Brauchen
wir da eine Leitkulturdebatte, um unsere lieben Migranten-Nachbarskinder
zu integrieren? Falls sie das wollen. Es darf nicht hingenommen
werden, wenn Mädchen ohne Kopftuch von Einwandererkindern als
minderwertig betrachtet werden. Das aber ist häufig der Fall.
Man stelle sich vor, diese Kinder würden von Anfang an musikalisch
miteinan-der auf eine Stufe gestellt, träten in Wettbewerb
und Kommunikation miteinander auf einem religiös und geschlechtsspezifisch
neutralen Gebiet. Musik als Medium der Kommunikation reißt
schließlich Menschen aus den ihnen bekannten Rahmenbedingungen:
Emotionalität, Präsenz, Bewunderung und Hilflosigkeit,
Grenzen und Grenzensprengen durch Lernerfahrungen, da wo Ratio und
Worte nichts mehr ausrichten. Standen sie schon einmal im Ensemble
an einem Instrument, das sie nicht beherrschten? Möglicherweise
würde die Verachtung islamischer Jugendlicher andersdenkenden
Gleichaltrigen gegenüber beim Musikmachen sinken, wenn scheinbare
Sicherheiten weichen, weil kulturspezifische Floskeln, Strukturen
und Identitätsmerkmale ausgetauscht und gegenseitig gelernt
werden. Ein schöner Traum? Wir wiederholen die Erkenntnisse
der Neurologen: Auf Tonfolgen reagiert das Hirn nahezu identisch,
wie auf gesprochene Sätze. Musik stellt sich somit als Kulturen
kommunizierendes „Leit-Medium“, wenn man so will, an
sich dar. Warum sollte unser Land, das sich per Gesetz jüngst
als Einwanderungsland definierte, diese Ressourcen nicht nützen?
Eine „Leitkulturdiskussion“ sollte, wenn, dann andere
Fragen stellen als bisher, und sie könnte mit weniger Nervosität
uns selbst gegenüber geführt werden. Allerdings: Der Zugang
zu einem dauerhaften, fordernden und fördernden lebendigen
Umgang mit musikalischem Material ist in unserem Bildungssystem
eben zur Zeit gar nicht mehr möglich. Er aber könnte Kindern
heute helfen, stabil zu werden und konstruktive Antworten zu finden
im Wirrwarr der Einwanderungsgesellschaft. Warum gelingt es nicht,
kreativer Kommunikation mit Musik grundsätzlich einen entsprechenden
Stellenwert in der Schule einzuräumen?
„Klassische Musik“ bleibt ein Erkennungsmerkmal des
Bildungsbürgertums, weil sie umfassend in den Schulen nicht
vermittelt wird. Auch nicht als eine handwerkliche Grundlage für
Jazz, Folk, Pop, Rock, Ethno, Rap und alle anderen Gattungen, die
vielleicht leichter zu handhaben sind und ebenso Identität
bilden. Wer Musik lernen will, muss das in der Regel teuer bezahlen,
man muss sie sich eben leisten können, die „Leistkultur“,
diese Definition ist deutlich.
Musikalische Faszination und Auseinandersetzung könnten langfristig
einladen, weiterzumachen, offen zu bleiben, wenn die Fronten zwischen
„Multikulti“ und „Ausländer raus“ endlich
den Tatsachen eines „Einwanderungslandes“ Platz machen
und Musik als Medium ganz gezielt genützt würde. Ja, man
darf Musik „benützen“, wenn es um Fragen der menschlichen
Kommunikation geht, sie ist viel mehr als ein einmaliges Kulturgut,
Musik ist Kommunikation. Das wissen selbst hochbezahlte Profis manchmal.
„Jeden Tag gibt es in Norwegen Schulkonzerte. Sechs Wochen
im Jahr widmen sich Profi-Musiker in Norwegen diesen Touren durch
die Schulen“, lobt Peter Schulze, Leiter des Berliner Jazz-Festivals
ein Beispiel aus Skandinavien: „Die Aktivität führt
dazu, dass in Norwegen das Musikleben boomt. Dagegen sieht es in
Deutschland so aus: Wir haben eine Medienwelt, die immer enger formatiert
wird. Diese Sorte von Formatierung in den Medien ist eine absolute
Respektlosigkeit gegenüber der Produktion von Kunst.“
Dennoch, gibt es nicht musikalische Schülerprojekte von Künstlern
auch in Deutschland ? Sie werden zur Zeit landauf, landab laut gelobt,
ein bisschen zu laut, um nicht als Renommierprojekte, als singuläre
Blüten in einer Trockenperiode durchschaut zu werden. Man denke
nur an das gelungene Schüler-Tanzprojekt der Berliner Philharmoniker,
dem andere Orchester folgten. Was kommt danach?
Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrates
weist darauf hin, dass diese Events Einbahnstraße bleiben,
weil keine weiterführenden Angebote da sind: „Die Kinder
haben musikalisch Hunger bekommen – und stehen vor verschlossenen
Musikschultüren.“ Zu teuer, geschlossen, abgeschafft!
Friederike Haupt
Lesen Sie auch den Leitartikel der aktuellen „politik und
kultur“ März-April 2006: „Nachdenken über
Leitkultur“ von Norbert Lammert