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nmz-archiv
nmz 2006/03 | Seite 24
55. Jahrgang | März
Musikvermittlung
Wolfgang Amadeus Mozart hätte sich bestimmt gefreut1
Ein Staatstheater und ein Studiengang „Musikvermittlung“
kooperieren
Die Hochschule für Musik Detmold bietet seit mehreren Jahren
den berufsbegleitenden Zusatzstudiengang „Musikvermittlung/Konzertpädagogik“
an. Das folgende Beispiel zeigt, wie professionell und praxisnah
sich die Studierenden bereits im Studium auf ihren zukünftigen
Arbeitsfeldern erproben.
Es sind zwei ungleiche Partner, die in diesem konzertpädagogischen
Projekt miteinande kooperieren – auf gleicher Augenhöhe:
das Staatstheater Kassel und der Zusatzstudiengang „Musikvermittlung/Konzertpädagogik“
der Musikhochschule Detmold. Die Initiative ging von Mitgliedern
des Kasseler Orchesters aus. Sie hatten von dem Detmolder Pilotprojekt
gehört, hatten Kenntnis vom Konzept und Erfolg der Familienkonzerte
wie der Concertini piccolini.2 Sie waren und sind überzeugt,
für Kassel ein in die Zukunft weisendes Angebot gefunden zu
haben und erproben zu wollen. Die Gespräche zwischen Orchestervorstand,
Orchestermanagement, den Dirigenten und der Studiengangsleitung
führten zu gemeinsamen konzertpädagogischen Vorhaben in
der laufenden Saison: „Neue Wege im Konzert für junge
Ohren.“ Mit dieser Kooperation eröffnet sich für
das Orchester die Chance, ein junges Publikum zu gewinnen und in
neuer Weise anzusprechen. Den Studierenden bietet sich die ganz
besondere Möglichkeit, im Studium entwickelte Konzertkonzepte
und die eigene Moderatorentätigkeit auf höchstem Niveau
zu erproben. Die Presse urteilte nach dem ersten Konzert: „Niveaureiche
Familienkonzerte zum Mitmachen dieser Art sollten regelmäßig
auf dem Spielplan stehen“; und nach dem zweiten: „Begeisterte
Zugaberufe für eine vorbildliche Stunde der Musikvermittlung.“
Was bringt das Staatstheater in diese Kooperation ein?
In den Konzerten spielt das Orchester des Staatstheaters. Es
ist offen für die Programmwünsche der Hochschule. Die
Probe mit den Moderatoren dient nicht mehr der musikalischen Erarbeitung
der Musik, sondern der Arbeit an der Präsentation.
Das Staatstheater stellt die gesamte professionelle Infrastruktur
zur Verfügung (z.B. Beleuchtung, Einrichtung des Raumes,
Aufbautechnik, Theaterpädagogik)
Es übernimmt die Werbung für die Konzerte.
Es stellt Kontakte zu den Schulen im Kasseler Raum her.
Es übernimmt auch mit Hilfe von Sponsoren die Finanzierung.
Was bringt der Studiengang in die Kooperation ein?3
Das von uns entwickelte Konzept der Musikvermittlung in Familien-,
Kinder- und Schulkonzerten. Das Besondere dieses Konzepts sind
die vielfältigen Vermittlungs- und Präsentationsformen:
Musik wird in überraschend neue Hörsituationen gestellt;
mit Bildern und szenischen Gestaltungen wird die Welt der Musik
veranschaulicht; durch Singen oder Body-Percussion wird das Publikum
beteiligt. Stets werden Kinder auf der Bühne in die Darbietung
einbezogen, sei es, dass sie vorbereitet eine Bewegungsgestaltung
oder einen Tanz vorführen, sei es, dass sie eigene Bilder
oder Texte zur Musik präsentieren. Immer wird auf den engen
auch strukturellen Bezug zur Musik geachtet. Die starke Aktivierung
des Publikums bewirkt eine enorme Anteilnahme aller im Saal, ja
sie löst Begeisterung aus. In all unseren Konzerten erklingt
Musik, mit der anhaltend, ja lebenslang zu beschäftigen sich
lohnt. Dies ist nicht nur Musik für Jugendliche, sondern
immer auch Musik für Erwachsene. Nach diesem Grundsatz handeln
wir in den Concertini piccolini für vier- bis sechsjährige
Kinder wie in den Konzerten für die älteren Kinder und
die Jugendlichen: zu hören ist Musik im breiten Spektrum
vom Mittelalter bis zu Werken von Holliger, Schnebel, Scelsi,
vom Jazz bis zur Big Band. Die Musik muss in Länge, Ausdruckswechsel,
Tempo wie instrumentalem Reiz dem Aufnahmevermögen von Kindern
entsprechen.
Eine bis ins Einzelne ausgearbeitete Konzertmoderation und
Ablaufpläne für das Orchester.
Vorbereitung der Studierenden mit Blick auf Bühnenpräsenz
und Vortrag im Konzert.
Entwicklung der Texte für die Öffentlichkeitsarbeit.
Zusammenstellung von Materialien für den Musikunterricht
an Schulen, in dem das jeweilige Konzert vorbereitet wird.
Die Durchführung eines Lehrer-Treffs zur Vorbereitung
des jeweiligen Konzerts.
Inhaltliche Absprache mit den Schulklassen, die im Konzert
mitwirken (Tanzchoreographien zur Verfügung stellen, Aufgaben
für bildnerische Gestaltung formulieren u.a.).
Konzertwirklichkeit mit dem „Dschungelfieber“
„Ein gemütlicher Bär, ein geschmeidiger Panther,
eine listige Schlange und ein gefräßiger Tiger –
diese und andere Tiere werden am Sonntag.... im Familienkonzert
zu Gast sein und das Publikum in ihre Heimat, den Dschungel, entführen.
Angeführt wird die bunte Tierwelt von einem kleinen Jungen
namens Mogli, dessen aufregende Geschichte der ungarische Komponist
Miklos Rosza nach dem berühmten Roman „Das Dschungelbuch“
von Rudyard Kippling in Musik gesetzt hat.
Entstanden ist ein groß angelegtes Werk für Orchester
und Sprecher, das die Abenteuer des Dschungelkindes und seiner vierbeinigen
Freunde in den unterschiedlichsten Farbtönen des Urwalds beschreibt.“
So begann der Ankündigungstext des Staatstheaters für
das Konzert, verfasst von einer Studentin. Das Orchester hatte das
Stück in Proben künstlerisch erarbeitet. Im Studiengang
wurde die Einführung entwickelt. Vorbereitend wurden in einer
Grundschule Dschungelbilder gemalt; die Kinder verkörperten
mit Kostümen und Bewegungen die Tiere des Dschungels entsprechend
der Musik.
Erfahrungen
Die Stille im Saal, der lang anhaltende Beifall und die Ergebnisse
einer kurzen Kinderbefragung durch Studierende eines Seminars der
Universität Kassel bestätigten den Eindruck eines gelungenen
Konzerts, das Kinder wie Erwachsene erreicht hat. Dazu hatten beigetragen:
Die vorzügliche Interpretation des Orchesterwerks durch
das Orchester. Auch die engagierte Haltung aller Musiker war wichtig.
Die spezifische Raumgestaltung mit einer ausgearbeiteten Beleuchtung.
Die sichere, Kinder ansprechende Art der Moderatorin.
Die klare Strukturierung der Einführung.
Das aktive Einbeziehen des Publikums in der Einführungsphase.
Ein Fest für Amadeus. Konzert für Grundschulen
Worüber würde Mozart sich heute freuen, wenn er auf
sein „Fest für Amadeus“ käme? Diesem Grundgedanken
folgend wurde das Konzert für Grundschulen als Geburtstagsfest
mit Geschenken, Festmusik, Tanz und Vorführung durchgehend
szenisch angelegt. Schön verpackte Geschenke, von Familienangehörigen
oder Freunden Mozarts geschickt, wurden allseits sichtbar von Grundschülern
ausgepackt, ein Eilbrief geöffnet. So wechselten Darbietungen
des Orchesters, das Sprechen der Moderatoren, das Vorlesen von Briefen,
die Vorstellung von Musikern und Instrumenten, das vorbereitete
Tanzen einer Grundschulklasse und das gemeinsame Musizieren aller
im Saal:
W.A. Mozart, Finale des 3. Aktes aus „Die Hochzeit des
Figaro“ (die Festmusik vom Schluss) war Konzerteröffnung.
Die Grundschüler mit den Paketen zogen ein.
Das Paket mit Wintersachen, einem fiktiven Brief des Vaters
und 100 Glöckchen führte zu Leopold Mozarts Schlittenfahrt
mit „Das schüttelnde Pferd“ und „Das vor
Kälte zitternde und schnatternde Frauenzimmer“. Gemeinsames
Musizieren von Orchester und Publikum.
Das zweites Paket enthielt Schlagwerk, eine Postkarte vom „Café
Alla Turca“ aus Wien und führte zu Michael Haydn: Türkischer
Marsch.
Ein Eilbrief brachte die Noten für Jean Francaix, Mozart
new-look. Petite Fantaisie pour Contrebasse et Instruments à
vent sur la Sérénade de „Don Giovanni“.
Der Kontrabass wurde als Soloinstrument vorgestellt.
Reiseutensilien und ein Posthorn im dritten Paket motivierten
zur Erprobung dieses Instruments nah an den Kindern des Publikums.
Der Hornist spielte sodann W.A. Mozart, Konzert für Horn
und Orchester Es-Dur, KV. 417, 3. Satz Rondo. Mit einer Body-Percussion
zum Refrain war wiederum das gesamte Publikum beteiligt und eine
musikalische Form von allen erlebbar.
Faschingskostüme quollen aus dem vierten Paket. Die Grundschulklasse
tanzte den Contredanse KV 609, Nr. 1, der die musikalischen Bausteine
der nachfolgenden Arie enthält.
Ein Sänger dringt ärgerlich ein ins Konzert, beschwert
sich über den Missbrauch seiner Arie als Tanz und führt
seine Musik vor: Arie des Figaro „Non più andrai“
aus „Die Hochzeit des Figaro“.
Ouvertüre „Die Entführung aus dem Serail“,
2. Teil (Konzertfassung) als Schlussstück, wieder mit einer
kleinen Beteiligung des Publikums (Body-Percussion).
Erfahrungen
Das Vermittlungskonzept „Mitmachen und Zuhören“
der Moderatoren, die szenische Anlage mit dem Wechsel der Perspektiven
und die Mitwirkung der Grundschulklasse führten zu anhaltender
Aufmerksamkeit und zu einer begeisterten Zustimmung des Publikums.
Vorbildlich, wie selbstverständlich sich die Musiker des Orchesters
in das Vermittlungskonzept einfügten und Aufgaben übernahmen.
Das Spiel einer Melodie durch den Kontrabassisten zog staunende
Stille nach sich. Andere Phasen des Konzerts führten zu lebhafter
Beteiligung aller im Saal. Für die Studierenden brachte die
Zusammenarbeit mit dem Staatstheater neue wichtige Einsichten,
dass auch Kinder, wenn sie in die Vorführung mit Darbietungen
einbezogen werden, sich professionell verhalten müssen
dass dies geübt werden muss.
dass in einem Theater die Möglichkeiten der Beleuchtung
von vornherein bedacht werden müssen.
dass sie als Moderatoren eine bisher nicht gekannte Fülle
von Aspekten bedenken müssen.
„Der Nussknacker im Mai“. Konzert für Grundschule
Bei den Vorüberlegungen fragten wir uns: Was tut ein Nussknacker?
Er knackt Nüsse, auch im übertragenen Sinne (Zaubernüsse,
Überraschungseier): Eine große Nussmusik oder eine Knack-Musik
mit Nüssen, Nussschalen, Knackfröschen in Form einer avantgardistischen
Improvisation mit allen im Saal ist angesagt. Auch mit dem Orchester!
Was macht der Nussknacker im Mai? Er reist. Die Ouvertüre von
Ellington zum Beispiel ist eine coole Wandermusik, andere Sätze
laden zu einer rasenden Autofahrt auf einem Highway ein (Bewegungschoreographie):
Amerika-Tournee des Nussknackers. Es gibt Reisestationen mit neuen
Eindrücken (Musik von Ellington, Ives, Copland). Und es gibt
Pausen, wo der Nussknacker Zaubernüsse knackt, in Zaubernussschalen
horcht, aus denen Erinnerungen, Märchenträume sich entfalten:
Tschaikowskis Musik als Kern. Grundschulklassen werden im Sinne
kreativen Schreibens Texte verfassen, Spielsituationen finden, Bewegungsgestaltungen
zur amerikanischen Musik und Tänze zu Tschaikowski erarbeiten
und im Konzert vorführen. Es wird die Lichtregie im Saal eine
große Rolle spielen. Das Orchester verwandelt sich vom Staatsorchester
zur Big Band „The Crackers“. Auch die Planung und Realisierung
dieses Konzertes wird wieder eine Herausforderung für alle
sein.
Auswirkungen im Rückblick
Das Orchester wirkt in neuer Form hinein in die Stadt. Dafür
nutzt es das professionelle Können der Musikvermittlung im
Studiengang.
Durch den konzertpädagogischen Ansatz kommt es zu einem
Miteinander der Kulturträger Schule und Staatstheater. Lehrerinnen
und Lehrer sagten nach den Konzerten, sie gewännen in den
Konzerten methodische Anregungen für den eigenen Unterricht.
Das Orchester öffnet sich neuen Formen der Musikvermittlung
in Konzerten, die auch an anderer Stelle wirksam werden können.
Für die Studierenden bringt die Kooperation eine Optimierung
ihrer Ausbildung. Der Praxisbezug des Studiums ist ohnehin außerordentlich
intensiv. Neu ist die eigene Erprobung in einem großen Haus:
die gemeinsam im Rahmen des Studiums entwickelten Konzertkonzepte
stehen auf dem Prüfstand.
Die Anwendung der Methodik vor sehr großem Publikum muss
gelingen. Die eigene Präsenz auf der Bühne und die Moderation
sind unter neuen Bedingungen herausgefordert, damit die Vermittlung
überhaupt funktioniert. Alles, was im Studium gelernt worden
ist, muss sich bewähren.
Der in dem Studiengang entwickelte Vermittlungsgedanke, bestätigt
durch die Kooperation, wirkt auch in die Hochschule hinein, denn
Musikvermittlung/Konzertpädagogik wird künftig auch
in den grundständigen Detmolder Studiengängen angeboten
werden.
Ernst Klaus Schneider
Anmerkungen
1 Aus Schülerbriefen einer Klasse 5 an das
Staatstheater nach dem Besuch des Konzerts „Ein Fest für
Amadeus“.
Im Folgenden werden aus Platzgründen nur die Grundschul-
und Familienkonzerte thematisiert. Es wird überdies ein Konzert
für die Sekundarstufe I geben: New York-New York-New York:
Musik aus der Neuen Welt.
2 Einzelheiten zum Zusatzstudiengang Musikvermittlung/Konzertpädagogik,
der ab Oktober 2006 als Masterstudiengang geplant ist, unter www.hfm-detmold.de/studium/details/musikverm.html
3 Ernst Klaus Schneider, Musikvermittlung: Programmgestaltung,
Dramaturgie, Moderation, Organisation von Konzerten. Ein neues
Berufsfeld für Musiker, Musikpädagogen oder Musikwissenschaftler
und das Ausbildungsmodell der Hochschule für Musik Detmold,
in: H.G. Bastian (Hrsg.), Musikpädagogik studieren –
und was dann? Augsburg (Wissner) 2001, S. 117–126
Barbara Stiller, Constanze Wimmer, Ernst Klaus Schneider (Hrsg.),
Spielräume Musikvermittlung. Konzerte für Kinder entwickeln
– gestalten – erleben, Regensburg (ConBrio) 2002