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nmz-archiv
nmz 2006/03 | Seite 44
55. Jahrgang | März
Rezensionen
Wo bist du gewesen, mein Sohn?
Joaquin Phoenix als Country-Seele Johnny Cash in „Walk
The Line“
Ein alter Showbiz-Spruch aus einem Judy-Garland-Musical verleiht
diesem Biopic seinen Drive: „Where there’s music, there’s
love.“ Anders gesagt: Als June Carter im Frühling 2003
starb, blieben auch Johnny Cash nur noch vier Monate auf Erden.
Eine „wahre Geschichte“ erzählt also „Walk
The Line“: Die Ballade von John & June. Schon als Little
John hatte er sich in Junes Stimme verliebt, die aus dem Radio erklang.
Als Mitglied der legendären Carter-Family war das Country-Girl
seit ihrer Kindheit auf den Bühnenbrettern gestanden. „Hillbilly
Music“ nannte man damals noch das Gebräu aus Folk, Country
& Gospel, das kurz nach der Jahrtausendwende ein unglaubliches
Revival in den USA erlebte.
Durch und durch biblisch grundiert ist dieses famose Biopic, das
auf den beiden Autobiografien von Cash basiert. Wie schon Taylor
Hackfords grandioser Film über Ray Charles erzählt James
Mangolds „Walk The Line“ die uralte Geschichte von Kain
& Abel. Während sich sein Bruder Jack bei der Sägearbeit
tödlich verletzte, war John beim Fischen gewesen, unten am
Fluss. Ein Leben lang wird ihn die Frage des kalten Vaters verfolgen:
„Wo bist du gewesen, mein Sohn?“ Ein Bruder im Geiste
wird sie später sogar zum Hit machen, der spätere „Columbia
Records“-Genosse Bob Dylan: „Where have you been my
blue-eyed son?“
Wie Bob Dylan, Frank Sinatra oder Elvis Presley war Johnny Cash
eine der Stimmen Amerikas. Und so ist „Walk The Line“
natürlich auch ein großer Film über „God’s
own country“ geworden. Alles dreht sich in diesem Gemisch
aus Facts & Fiction um „Love, God & Murder“,
wie ein Boxset mit Songs des „Man in Black“ hieß.
Das berühmte „I shot a man in Reno ...“ trug perfekt
zur Legendenbildung bei. Die Knastbrüder im Folsom State Prison
nahmen ihm jedenfalls dieses Geständnis ab und feierten ihn
1968 – auch wegen der vielen Drogengeschichten – als
einen der ihren, wie der Film zeigt, der mit diesem magischen Moment
beginnt und endet. Bevor irgendein Cash-Song erklingt, gibt eine
Stampede aus trampelnden Stiefeln jener dunklen „Brüder“
den Takt vor für diese Showbiz-Story, die auch „Get Rhythm“
hätte heißen können.
Angeblich schrieb Johnny Cash „Get Rhythm“ 1956 für
einen damaligen Kollegen bei „Sun Records“, Elvis Presley.
„Get Rhythm“ war die großartige Rückseite
der Single, die diesem Film den Namen gab: „I Walk The Line“.
Während dieses Mantra aber von der dünnen Linie zwischen
Liebe und Hass kündete, ging es in dem swingenderen Titel um
die „Erlösung durch Rhythmus“, wie der Musikkritiker
John Fricke befand: „Der Held des Songs ist ein Schuhputzjunge.
Die schiere Lebensfreude des Jungen, der sich weder durch sein elendes
Dasein noch durch das Wetter unterkriegen lässt, verleiht dem
Song Tempo, während Carl Perkins’ Riffs und der schnurrende
Wachspapiersound von Cashs Rhythmusgitarre das Scheuern von Bürste
und Putzlappen wiedergeben.“ „Get rhythm when you get
the blues ...“ Im Film singt Joaquin Phoenix diesen Song so
inbrünstig wie Reese Witherspoon ihre alten June-Carter-Lieder
„Wildwood Flower“ und „Jukebox Blues“.
Das musikalische Mastermind hinter „Walk The Line“
ist ein alter Bekannter: T Bone Burnett. Seit seinem Erfolgsalbum
„O Brother, Where Art Thou?“ veredelte er in den letzten
Jahren zahlreiche Soundtracks. Immer wenn es in Hollywood um „Old
Time Music“ ging, war er zur Stelle. „Walk The Line“
(bei Sony BMG) ist nach dem „O Brother“-Soundtrack sein
zweites Meisterstück geworden. Eine vorzügliche Songauswahl
(„Home Of The Blues“, „It Ain’t Me Babe“,
„Cocaine Blues“) wurde von T Bone Burnett perfekt im
alten Stil arrangiert und produziert. Joaquin Phoenix und Reese
Witherspoon könnten durch „Walk The Line“ zum Traumpaar
der Country-Szene werden, wie einst Johnny Cash und June Carter.
Für den Oscar nominiert sind die beiden jedenfalls schon.