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nmz-archiv
nmz 2006/03 | Seite 42
55. Jahrgang | März
Rezensionen
Aufreibung und Lebens-Kitzel pur
Die zehn von Seiten der nmz für den Grammy nominierten Pop-Platten
für März 2006
Die Grammys sind durch und man darf feststellen: Die Veranstaltung
unterscheidet sich kaum von der deutschen Bambi-Verleihung. Stets
dieselben für die ewig gleiche Musik. Dauernd neue Kategorien,
um politisch korrekt zu bleiben und die Liebe unter allen zu verteilen.
Und so wird die Verleihung 2020 eine Woche dauern. Politisch korrekt
auch, dass die Klassik-Grammys online bekannt gegeben werden, oder?
Nun denn. Auf in die Präsentation.
Norwegen schickt gen Ende des Winters einen weiteren Singer/Songwriter.
Robert Post heißt er samt Album; zugestellt
wird Pop britischer Prägung, nordischer Grundmolligkeit und
eisiger Weite. Die Vorbilder nennen sich Beatles, sicher schimmern
rockige Töne eines Brendan Benson durch, aber Post findet einen
klaren Adressaten: den erwachsenen Pophörer, dem Querverweise
auf die Beatles immer reichen werden. Wilson jr. überraschen
mit einem Maiglöckchen-Album. Emorock und alternativer Gitarrenrock,
der sich mit deutschen Texten angenehm und vor Energie fröstelnd
um die labile Winterschale schlingt. Das befriedigt unheimlich,
insbesondere weil man sich nicht scheut Visionen durchzusetzen.
Ein wunderbares Rockstatement mit glühenden Gitarren. Die wahre
Kunst der Musik scheint bei der Kompilation Future Folk zu glänzen.
Geschickt lässt man im Titel den Begriff „Folk“
fallen. Tollpatschig hechelt man als Hörer durch die Platte
und möchte ihn nicht finden, den Folk der Zukunft mit Wurzeln
des Perfekts. Versteckt hat man ihn hinter elektronischen Phrasen
und verhaltenem Postrock. Eine kognitive Collage mit Künstlern
wie Colleen, Caribou, Khonnor oder März.
Philipp van Endert samt Trio präsentiert
wieder eine Platte des Leichtseins. Jazz mit Dramatik und offenem
Ende. Klar geht Endert auf Nummer sicher. Seine alten Wege verlässt
er nicht. Doch die fest gezurrten Wege aufs Neue schier perfekt
zu präsentieren, darf man honorieren. Komposition, Emotion,
Intention vereinen sich in diesem homogenen Jazz-Album. Ein alter
Hase, der Philipp van Endert. Dass Glasgow mit Franz Ferdinand,
Snow Patrol oder Belle & Sebastian für Furore sorgte, ist
bekannt. Ähnlich unkonventionell und oft verrückt agierend
sollten nun die Glasgower Vorstädter My Latest Novel dazustoßen.
Es ist Pop. Doch in Manier der schottischen Songwriter. Mit Akustikgitarren,
Fiedeln, Xylophon, Piano und unendlich romantischem Stoizismus.
Diese Traurigkeit muss man sich gönnen.
Downpilot aus Seattle rührte mit dem ersten
Album „Leaving Not Arriving“ mächtig in der Nachgrunge-Ära,
allerdings mutierte die Band zum Zweimann-Projekt, so dass Paul
Hiraga als musikalischer Dirigent und Produzent Tucker Martine nun
die Fäden in der Hand halten. Zu hören sind auf „Like
You Believe it“ monströse Mauerwerke aus Ruhe, Introvertiertheit
und tröpfchenweise Musikexplosionen. Dynamik ist wichtig, dennoch
mangelt es keinem Song an Tiefe. Ein Album, das oft an REM erinnert,
aller-dings mit vom Druck gefüllten Ohren. Bitte abstürzen
mit „Downpilot“.
OCKER aus Hamburg sind mit den Widrigkeiten der
Branche vertraut. Vertrieb weg, Verträge weg, Plattenmanager
weg, Bandmitglieder weg. Also alles irgendwie weg. „Public
Transport“ steht allerdings nichts im Weg. Ein Album, das
den Weg frei räumt. Ihre Popmusik schert sich wenig um Discobeats
und Independent-Rockgitarren. Sie koalieren geschwisterlich. Hände
werden gereicht, eine kleine Dosis Seelenschmerz, der sich eher
zur Weltbeschreibung dreht, schwingt konstant mit. Als Bonustrack
gibt es bleibende Popmelodien, die man noch ein paar Stunden später
pfeift. Taugt richtig gut.
Lyambiko, die großartige Jazz-Sängerin
aus Thüringen mit Wahlheimat Berlin, knallt ein Hammeralbum
auf den fast österlichen Gabentisch. „Love… And
Then“ ist Intimität, Aufreibung und Lebens-Kitzel pur.
Die von Marque Lowenthal und Finn Wiesner komponierten Songs zeugen
von Klasse, Lyambiko reiht sich da gerne ein. Ein nicht antiquiertes
Kuschel- Jazzalbum, dem nichts fehlt. Dem nur der Makel anhaftet,
eine weitere Version des Klassikers „Over the Rainbow“
bereit zu halten. Das ist öde und phantasielos.
Scott Stapp könnte von der Pop- Grunge-Band
Creed bekannt sein. Dort sang er, bis man sich nicht mehr lieb hatte
und die Band sich auflöste. Trotz 25 Millionen verkaufter Alben,
Grammy und Platinpreise. Nun zog er sich in sein Studio zurück,
holte Freunde von Sonic Youth, Killing Joke oder Cure dazu und vollzog
die Abnabelung von Creed. Was Stapp hier abliefert, ist mitleidsloser,
zorniger Postgrunge. Harte Gitarren dominieren, der Gesang tendiert
in Richtung wütender Eddie Vedder (Pearl Jam). Scott Stapp
untermauert seinen Ruf als grandioser Rock-Songwriter, wenngleich
die Pop-affinen Tendenzen von Creed in keiner Weise mehr vorhanden
sind. Gut so.
Das dritte Album der holländischen Band Krezip
mit der wunderbaren Sängerin Jacqueline Govaert muss als Scheideweg-Album
gesehen werden. Die ersten beiden Alben wurden mit unbändigem
Liveeinsatz beworben und ernteten auf allen Festivals Applaus, Beifall
und Kopfnicken. Nur merkantil dürfte sich das noch nicht so
rechnen.
„What Are You Waiting For“ hat sich definitiv zum Höhepunkt
der Band entwickelt. Rockmusik mit Gitarren, mächtigen Refrains,
dezenten Soundteppichen und Ohrwurmcharakter. Krezip haben sich
entwickelt, vermeiden es fachgerecht nach amerikanischen Vorbildern
zu klingen und erarbeiteten sich mit dem dritten Album ein glasklares
Profil. Daumen hoch für diese talentierte Band auf dem Weg
nach oben.
Sven Ferchow
Diskografie
Robert Post – Robert Post (Mercury, 31.3.06)
Wilson jr. – Introinvasion (Consolidate Records, 24.3.06)
V.A. – Future Folk (Stereo Deluxe, 24.2.06)
Philipp van Endert Trio – Khilebor (JazzSick Records, 24.3.06)
My Latest Novel – Wolves (Bella Union, 03.3.06)
Downpilot – Like You Believe it (Tapete Records, 31.3.06)
OCKER – Public Transport (Cargo Records, 24.2.06)
Lyambiko – Love… And Then (Sony Classics & Jazz,
24.2.06)
Scott Stapp – The Great Divide (SonyBMG, 03.3.2006)
Krezip – What Are You Waiting For (SonyBMG, 31.3.06)