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VdM
nmz-archiv
nmz 2006/03 | Seite 26
55. Jahrgang | März
Verband deutscher Musikschulen
Ton für Ton auf dem Weg zu einem starken Ich
Das Kooperationsprojekt „Pesta-Bläser“ der Musikschule
Friedrichshafen
Neue Tendenzen im Ganztagesunterricht lassen aufhorchen. „Pesta-Bläser“
nennt sich ein Projekt, das bereits im zweiten Jahr eine Brücke
zwischen der Musikschule Friedrichshafen und der Pestalozzischule
schlägt. In diesem Schuljahr haben sich zwölf Schülerinnen
und Schüler der fünften Klassen für den Orchester-Unterricht
gemeldet. Trotz lauter Töne steht die Musik für Musikschulleiter
Rainer Rudisch im Hintergrund. Er hat ein Projekt ins Leben gerufen,
das die Sozialkompetenz der Schüler stärken und sie in
der Entwicklung ihrer Persönlichkeit unterstützen soll.
Im Anton-Elflein-Saal der Musikschule Friedrichshafen sitzen zwölf
junge Schülerinnen und Schüler, die sich erstmals mit
Instrumenten vertraut machen. Während die Blechbläser
ihren Mundstücken auf Anhieb erste Töne entlocken können,
haben es die Holzbläser schwerer.
„Wir
wollen zusammen Musik machen“: Das Kooperationsprojekt
„Pesta-Bläser“ der Musikschule Friedrichshafen
und der Pestalozzischule. Foto: Gunthild Schulte-Hoppe
Mit rotem Kopf sitzt der kleine Daniel auf seinem Stuhl und versucht
vergeblich, dem Mundstück der Klarinette einen Ton abzuringen.
Doch dann – plötzlich hat’s geklappt. Die Gesichtszüge
entspannen sich, ein Lächeln huscht über Daniels Gesicht.
Ein Lächeln voller Stolz und Zufriedenheit. Denn nach unzähligen
Versuchen hat der Fünftklässler jetzt den Dreh raus, weiß,
wie er die Lippen formen und mit dem richtigen Zungenanstoß
in das Mundstück hineinblasen muss. Seine Geduld ist belohnt
worden.
„Beim Musizieren merken die Kinder selbst, ob sie etwas richtig
machen oder nicht“, sagt Rainer Rudisch, Leiter der Musikschule
Friedrichshafen und Initiator des Projektes an der benachbarten
Pestalozzischule. In Fachkreisen spricht man von „intrinsischer
Motivation“. Anders als in anderen Fächern – da
bekommen die Schülerinnen und Schüler eine Rückmeldung
vom Lehrer oder der Lehrerin – merken die Kinder sofort, ob
sie richtig liegen. Das spornt an und stärkt das Selbstvertrauen.
Der Gruppen-Bläserunterricht wird in der Pestalozzischule
als Wahlpflichtfach angeboten, die „Pesta-Bläser“
gehören also zum normalen Schulunterricht. Das Lernziel: ein
spielfähiges Orchester, das bereits nach wenigen Monaten sein
erstes Konzert geben kann. „Hier geht es nicht darum, so schnell
wie möglich ein Instrument spielen zu können“, stellt
Rainer Rudisch klar. Deutschlandweit, so schätzt er, gehen
(später) 90 Prozent aller Musikschüler aufs Gymnasium.
Deshalb ist es für den Musikschulleiter wichtig, „Schülern
aller Schularten einen niederschwelligen Zugang zur Musik zu ermöglichen
und mit einer anderen Lernkultur die Kinder individuell zu fördern.“
Zudem sind die „Pesta-Bläser“ als eine wichtige
Stütze für Kinder aus sozialen Brennpunkten und schwierigen
Verhältnissen gedacht. Das Instrument soll helfen, eine Persönlichkeit
zu entwickeln. Ein Ziel, dem man sich nur in kleinen Schritten nähern
kann.
Andrea Stohr, Musik- und Deutschlehrerin an der Pestalozzischule,
stößt ins gleiche Horn: „Für uns Lehrer ist
die Musik eine gute Methode, die Schüler zu motivieren.“
Im Vordergrund stehe für sie etwas ganz anderes. „Das
Bläser-Projekt bietet einen Raum, in dem die Schüler soziale
Fähigkeiten entwickeln können, also Teamfähigkeit,
Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft und Konzentrationsfähigkeit.“
Weil hinter dem Projekt „Pesta-Bläser“ ein pädagogisches
Konzept steht, betonen Andrea Stohr und Rainer Rudisch im Unterricht
immer wieder: „Wir wollen zusammen Musik machen“.
Drei Wochen später. Auch wenn die Kinder erst drei Noten gelernt
haben, klingen die Töne schon warm und melodisch. Zunächst
spielen die Jungen und Mädchen nacheinander das kurze Musikstück
für sich allein. Die anderen hören brav zu, wippen im
Takt mit den Füßen. So friedlich geht es nicht immer
zu. Oft zappelt jemand, ein anderer schwätzt oder bläst
ohne Aufforderung in sein Instrument. „Aber wenn’s wirklich
gilt, dann sitzen die Schüler mucksmäuschenstill auf der
Bühne“, hat Rainer Rudisch gemerkt. „Mir gefällt
der Brückenschlag zwischen Musikschule und Schule“, steht
Oberbürgermeister Josef Büchelmeier hinter dem Projekt,
„ich sehe in solchen Kooperationsmodellen die richtige Form,
wie man Kindern und Jugendlichen, die nicht von vornherein alle
Bildungschancen haben, neue Möglichkeiten eröffnet.“
Andrea Stohr ist sich sicher, dass das gemeinsame Musizieren die
Jugendlichen weiterbringt. „Ob sich die Kinder auch im normalen
Unterricht besser konzentrieren, ist sehr schwer messbar“,
gibt sie zu. Aber das Selbstbewusstsein werde auf jeden Fall gestärkt:
„Die Schüler sind sicherer im Vortragen geworden und
viel weniger nervös als noch zu Beginn.“ Auch Rektor
Josef Brugger ist von dem Projekt begeistert. „Nach dem neuen
Bildungsplan sind wir verpflichtet, überfachliche Kompetenzen
zu schulen. Dafür ist die Musik eine wunderbare Plattform.
Sie hilft zum Beispiel, das Durchhaltevermögen der Schüler
zu stärken.“
Mittlerweile sind aus dem großen Musikschul-Saal die Klänge
von „Jingle Bells“ zu hören. Gespielt von Jungen
und Mädchen, die vor drei Monaten noch nicht wussten, wie sie
ihr Instrument halten sollen. Musikschuldirektor Rainer Rudisch
ist überzeugt: „Wenn die „Pesta-Bläser“
am 20. Dezember erstmals öffentlich auftreten, ist nicht nur
das musikalische Lernziel erreicht.“