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nmz-archiv
nmz 2006/03 | Seite 34
55. Jahrgang | März
ver.die
Fachgruppe Musik
Heute hat sich Schule echt gelohnt
ReSonanz&AkzepTanz des Salzburger Mozarteums, der Essener
Philharmonie und der Herbartschule
Auf mindestens drei Jahre angelegt ist das Projekt „ReSonanz&AkzepTanz“,
das im September an einer Essener Grundschule begonnen hat, einem
sozialen Brennpunkt in der Nordstadt. Kurz gesagt bedeutet „ReSonanz&
AkzepTanz“: In drei Jahren wird in den acht Klassen der Ganztags-Schule
keine Stunde mehr vergehen, in der nicht musiziert, getanzt und
gesungen wird, um das Lernen, die Integration und Gewaltprävention
voranzubringen. Psychischen und physischen Defiziten der Kinder
soll zumindest entgegengewirkt werden. Partner des einzigartigen
Unternehmens sind das Mozarteum Salzburg, die Philharmonie Essen
und die Herbartschule unter der Schirmherrschaft des NRW-Kulturratsvorsitzenden
Gerhard Baum. KUNST+KULTUR begleitet das Projekt publizistisch.
Ende
benoteter Prozessionen: Kinder der Essener Herbart-Schule,
für die es keine Unterrichtsstunde mehr ohne Tanz und
Musik geben soll. Foto: Philharmonie Essen
Einen Hit haben sie schon, irgendwann nach dem September „stand“
dieser Rap bei allen Kindern der Herbartschule. An diesem Januar-Freitag
stampft, tanzt, klatscht, skandiert und singt den Hit gerade die
3b. Spielend füllt sie damit die neue Turnhalle: „...das
ist der Refrain, die Strophe machen wir! – wummwummkrachkrach“.
Die 3b der Herbartschule im Essener Norden, das sind an diesem Freitag
ein albanisches, ein kurdisches, zwei afghanische, zwei jugoslawische,
ein polnisch-russisches Kind, die Mehrheit der 19 Kinder ist türkisch,
die Lehrerin Angelika Kryckie ist Deutsche, und dann sitzt da noch
Frau Priebe von der Erziehungsberatung „für schwierige
Fälle“. Sie sitzt da wegen Eles. Der Junge gilt als auffällig,
so, dass man sofort weiß, wen Frau Priebe warum beobachtet.
Eles ist übrigens schon das zweite Kind in der 3b, für
das die Behörde eingeschaltet wird. Das Alles ist Alltag an
der Herbartschule. Die aber steht im Licht der Öffentlichkeit,
seit Walter Wüllenweber im „Stern“ „Das wahre
Elend“ von Essen-Katernberg beschrieb und den Stadtteil zur
„bildungsfreien Zone“ ausrief.
Von wegen! „Wummwummkrachkrach: Das ist der Refrain, die
Strophe machen wir!“: Heute führen Verena Eidenberger,
Arnika Ludwig und der musikpädagogische Coach Markus Kuchenbuch
in der 3b die schöne Sprache „Proto-Indo-European“
ein, schöne Wörter wie „kukluwos“ oder „espeket“.
Nie gehört? Nix verstahn? Proto-Indo-European soll nach einer
ernsthaften Theorie so was wie eine gesamteuropäische Urgrundsprache
gewesen sein, aus der sich die Sprachen all unserer Nachbarn abgeleitet
hätten. Und heute? Heute ist das umstritten, nicht jedoch für
die Kinder, so auch „kukluwos“, „espeket“,
„owis“ oder „esti“ – bloß weiß
niemand, was das heißt. Klingt freilich gut, geflüstert,
auch gebrüllt, und die Kinder der 3b erfinden zu Klang, Rhythmus
und Silben Bewegungen, ja, entwickeln in drei Gruppen kleine Choreografien.
Im Frühjahr soll daraus ein Stück entstanden sein, die
Kinder werden es aufführen. Vielleicht in Essens Philharmonie.
Um etwas zurückzugeben, um Freunden etwas zu schenken. Vielleicht
können sie denen von der Philharmonie etwas zeigen für
das Gastspiel in der Turnhalle vor Weihnachten, als die Philharmonie
mit „Hänsel und Gretel" zu ihnen kam.
Der schwarzhaarige Eles wird zum Motor seiner Gruppe aus fünf
Jungen. Angefeuert von Markus, übt und überprüft
er seine Schrittfolgen, konzentriert sich aufs Synchrone –
und strahlt. Strahlt wie Peter, auch so ein Auffälliger, nicht
nur wegen seiner Wichtelgröße und seiner mannhaften Segelohren
– Peter glüht und ringt um die Befehlsgewalt über
sein rechtes und sein linkes Bein, wobei rechts und links nicht
wissen, was sie tun. Das muss man jetzt schon unbedingt gesehen
haben! Sogar Frau Priebe von der Erziehungsberatung sagt das.
Von wegen „bildungsfreie Zone“! Essen-Katernberg war
nie so eine Zone. Hier unterstützt eine Schulbehörde viel,
was Bildung fördern könnte. – Besonders an der Herbartschule.
Machen wir aber mal einen Schnitt und betrachten die Zeit, nach
dem September, als die Philharmonie Essen zusammen mit Studenten
und Professoren des Mozarteums Salzburg an dieser Schule ihre Arbeit
begann. Fragen wir Angelika Sass-Leicht, die Direktorin: Was hat
sich denn verändert seit dem „Stern“-Artikel? Angelika
Sass-Leicht, so um die 40 Jahre alt, ist keine Frau großer
Gesten oder spektakulärer Sprüche, was ihre zurückhaltende
Aufzählung noch verstärkt: „Wir spüren im ganzen
Haus, wie sich die Kinder auf die Stunden mit den Studenten und
Professoren aus Salzburg freuen.“ Kürzlich rief ihr ein
Junge entgegen: „Heute hat sich Schule echt gelohnt!“
Nach den Aufführungen von „Hänsel und Gretel“
hörte man treppauf-treppab die Kinder nur „Suse, liebe
Suse" singen. Zwei wollen seither unbedingt Geige lernen. Ein
Junge ließ sich den Weg zur Philharmonie beschreiben, um mit
seinem Vater das Konzerthaus zu besuchen. „Das gibt Kraft“,
sagt Frau Sass-Leicht.
Während er auf einer Bank in der Turnhalle hockt, wird Michael
Kaufmann, der Philharmonie-Intendant, später hinzufügen:
Da hätten zwei Jungs um Karten für eine zweite Aufführung
gebettelt – zu fünft seien sie dann vor der Tür
gestanden. Und noch einer, der seinen Vater mitgebracht habe, der
die fünf Euro Eintritt nicht zahlen konnte. Alle durften rein,
zuhören und zuschauen. „Hey, Kapitän“, rufen
die Kinder der 3b in der Turnhalle in Richtung Klaus Feßmann,
dem Professor aus Salzburg, wobei sie „Esti, Esti“ stampfen
und tänzerische Schritte wagen, die sie aus dubiosen KungFu-Filmen
in Erinnerung haben. „Hey, Geschichtenerzähler“,
lachen sie Kaufmann zu.
Michael Kaufmann war erschüttert, als er die „Stern“-Reportage
las. Mit seinem Freund Feßmann von der Orff-Schulmusik-Schmiede
in Salzburg entwickelte er das Kattenberg-Konzept für „ReSonanz&AkzepTanz“.
Um Geld locker zu machen für dieses Projekt, hat er wiederum
in den Gremien der Hochkultur mächtige überzeugende Argumente
geschmiedet. Das überzeugendste, das schlichteste war das von
einer ungeteilten, chancengleichen Gesellschaft. Im Kleinen sieht
er seine Argumente durch die 3b bestätigt: „Ist das nicht
toll, wie sich hier jedes Kind im Spielerischen ausprobiert und
auch wieder einfängt, wie alles mit Musik zu tun hat und nicht
mit einer benoteten Prozession, sondern damit, dass sich jedes Kind
qualifiziert?“
Auch Angelika Sass-Leicht war erschüttert, als sie das erste
Mal die „Stern“-Reportage las, aber aus ganz anderen
Gründen als Kaufmann: „Was wird das wohl für eine
Wirkung haben?“ In Oberschicht und Unterschicht, soziologischen
Klassifizierungen, mit denen Wüllenweber operierte, erkannte
sie zunächst nur Abwertendes. Arbeitslosigkeit, Sozialhilfe,
Fernsehkonsum, zersplitterte Familien – all das rechtfertige
nicht das mediale Gerede von sozialer Verwahrlosung. „Hoffentlich
geht das schnell an mir vorbei“, dachte sie damals im September,
als die Kamera-Teams und die Reporter anrückten. „Gewiss
leben und arbeiten wir hier in einem sozialen Brennpunkt, und es
gibt einen riesigen Handlungsbedarf. Doch bei den Kindern sind ganz
einfache Potenziale nicht entwickelt“, so sieht sie es. Die
Reporter kommen immer noch, heute ist Angelika Sass-Leicht dankbar,
dass es den Artikel gab: Wenn der, wie gefordert, zu mehr Bildung
führe, dann sei das genau auch ihr Ziel, wenn auch noch viel
Feinarbeit nötig sei.
Zurück in die Turnhalle, in den Unterricht. „Krachkrachkrach“
und kein Rhythmus mehr. Von wegen „Feinarbeit“! Verena
und Arnika, die Studentinnen aus Salzburg sind derart beseelt von
ihrer Arbeit, dass sie mitunter alle didaktischen Prinzipien und
handwerklichen Regeln in ihrem Unterricht verdödeln. Für
jeden Pädagogen ein Graus. Ihr Professor und der Coach Markus
Kuchenbuch glauben freilich, daran sei der völlig überholte
Ausbildungsgang am Mozarteum schuld. Kuchenbuch nennt die Didaktik
eine Laborsituation, die nichts mit der schulischen oder der Lebenswirklichkeit
zu tun habe – eine Ausbildung wie unter einer Glasglocke.
Die müssten raus, raus wie nach Katernberg. Dort, hinter der
Tür eines Turnhallennebenraums loben, kritisieren und ermuntern
Feßmann und Kuchenbuch die Studentinnen. Was nach draußen
dringt an Sprachfetzen, klingt hart und eindringlich. Vor der Tür
drückt eine Reporterin dem neunjährigen Sven ihr Mikrofon
an den Mund: „Und was fandest du besonders gut?“
Sven guckt zu Boden, schweigt, als müsse er sich besinnen,
und sagt dann leise: „Alles“.