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nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 56
55. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Wolfgang Amadeus Mozart unter „ferner liefen“
Wettkampfromantik der Pianoamateure in Paris
Chung Lee ist gewiss kein Star. Schumanns Kinderszenen aber spielt
der Architekt aus China so traumwandlerisch zart, dass die Juroren
leise mitsummen. „Sehr musikalisch“, nickt Arto Benon,
einer von ihnen. Der Pianist und Lehrmeister muss es wissen, hat
er selbst doch bei einem Schüler Liszts studiert und in Paris
mit dem Klaviermagier Cortot zusammengearbeitet. Jetzt legt er seine
Hände übereinander, kehrt den Blick nach innen und lauscht
der Poesie des grauhaarigen Herrn am Flügel.
Musikalität ist gefragt beim ältesten und renommiertes-
ten Wettbewerb begabter Amateur pianisten, zu dem in Paris 86 Kandidaten
aus 22 Ländern antreten. Und Musik erspürt hier jeder
Amateur - der junge Physiklehrer aus La Réunion wie die gesetzte
Psychologin aus Dallas, die Mutter aus Halifax wie der Anwalt aus
Luxemburg. Konkurrenz und Siegeswille rangieren weit hinter der
Liebe zur Musik. Dies ist das Credo Gérard Bekermans, des
Pianisten und Ökonomen, der den Wettbewerb 1989 aus der Taufe
hob. So schafft er eine entspannte Atmosphäre, in der niemand
Schaukämpfe erwartet oder Neuauflagen von „Liszt gegen
Thalberg“ oder „Clementi gegen Mozart“. Auch sonst
spielt Mozart in Paris kaum eine Rolle. Nicht einmal im Mozartjahr.
Chopin ist Favorit, erklingt so oft wie Beethoven und Bach zusammen.
Seine Balladen und Scherzi, die alle Vorrunden bis zum Finale durchströmen,
befreien aus Interpreten Sturm und Drang ebenso wie das träumerische
Lied in allen Dingen. Nicht immer freilich löst sich die Botschaft
von der Technik. Bisweilen wird Gefühl zur Marionette des Verstandes,
durch Gestenpathos oder die Kunst der Mundmalerei ersetzt. Doch
gerade da, wo das Perfekte fehlt, wo Arpeggien geschmirgelt, Temposprünge
selbst gebastelt klingen, wo Harmonien im Pedal ertrinken, Allegro
donnert und Vivace plätschert, da sitzt ein Mensch, der spielt
und manchmal zittert, im Rampenlicht. Der Amateur ist nahbar und
weit entfernt vom Superstar. Das Publikum bewundert Mut und Willen,
kann sich aber zugleich in ihn hineinversetzen. Hier liegt das Geheimnis
dieses Wettbewerbs, die Romantik jenseits der Epochen.
Am Vorbild Paris orientieren sich Amateur-Wettbewerbe in aller
Welt. Auch in New York und Colorado Springs, in Boston und Fort
Worth gilt: Gehobener Spaß sticht Kampfgeist. Und überall
regiert Chopin. Beethoven und Bach werden oft gespielt, Brahms oder
Schubert eher heimlich verehrt. Kann man mit Brahms überhaupt
gewinnen? Eberhard Zagrosek, der erstmals in Berlin einen Amateur-Wettbewerb
ausrichten wird, ist davon überzeugt. Auch Chuck Cabell, Präsident
des Colorado-Wettbewerbs, bestätigt, die meist gespielte Musik
müsse nicht zwangsläufig siegen. In Paris jedenfalls siegt
das Außergewöhnliche. Moderne Kompositionen, die ihre
Interpreten zu perkussiver Gewalt nahezu herausfordern, beeindrucken
die Jury wenig. „Nach Rachmaninoff ging es mit der Musik bergab“,
sagt Benon, der Rachmaninoff noch persönlich erlebte.
„Moderne Komponisten nutzen den Flügel als Tamburin.“
Ein mildes Urteil, hört man Hartmanns Werk „27. April
1945“, gespielt von Gregor Prozesky aus Diepholz. Ein Maschinengewehr
berichtet vom Weltkrieg, von Wut und Empörung beim Anblick
der KZ-Häftlinge aus Dachau, ein Klanggespinst – faszinierend
und beklemmend zugleich. Weit nachdenklicher nähert sich diesem
Thema die Pariser Studentin Audrey Megaïdes mit dem dramatisch
gedehnten Crescendo ihrer Eigenkomposition „Reise nach Auschwitz“.
Ganz anders erobert Dominik Winterling Publikum und Jury. Einst
Domspatz zu Regensburg, jetzt Wirtschaftsstudent in Mannheim, reißt
er mit spritzigen Chopin-Etüden zu Ovationen hin. Und auch
wenn er Cho-pins f-Moll-Ballade zu wenig Zeit zu atmen lässt
und sich mit dem Engländer Rupert Egerton-Smith den zweiten
Platz teilen muss, so wird niemand, der dabei war, vergessen, wie
er mit Nikolai Kapustins Variationen opus 41 die Grenzen zwischen
Klassik und Jazz sprengte.
Liszts Verdi-Paraphrase über Rigoletto und eine Sonate von
Henri Dutilleux allerdings, vollendete Dynamik zwischen Akkordgewitter
und flirrenden, wie Schneekristalle ziselierten Tastenläufen
eines Thomas Yu, Zahnarzt aus Toronto, sind Jury, Pressejury und
Publikum den Hauptpreis wert.
Fünf Tage im Februar. Was wird bleiben? Irgendwann –
ein Brahms-Intermezzo zieht gerade vorüber – verklärt
sich Benons Cortot-Blick. „Alte Schule“, lächelt
er und trifft zugleich den Geist des Wettbewerbs, die Olympische
Idee des Dabeiseins. Die Freude am Spiel ist der Gewinn für
alle. Es gibt keine Verlierer.
Nirgends wird das deutlicher als in Chung Lees Halbfinale. Nervosität
hat ihn gepackt. Seine Ballade versiegt. Das Publikum ist bestürzt.
Chung Lee erhebt sich.
Ob er noch ein Stück spielen dürfe, fragt er, zur Jury
gewandt. „You have time“, nickt Bekerman, der Vorsitzende.
Der Architekt dankt, setzt sich. Ein Juwel bezaubert das andächtige
Publikum. Alle Herzen bei Chung Lee. Sein großer Moment. Einmal
im Leben ist jeder ein Star.