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nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 45
55. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Kindliche Fragen über das Wunder der Existenz
Zwei große Projekte für Kinder: Martin Smolka in Nürnberg
und Klaus Lang in Bonn
In den letzten Jahren rückt zunehmend die Frage nach Musik
für Kinder ins Gesichtsfeld. Anfangs gehandicapt durch einen
Mangel an passender Literatur, entstand in letzter Zeit eine Reihe
von Musikwerken, die sich speziell an Kinder und Jugendliche wendet.
Eine der wichtigsten Fragen ist der Umgang mit dem Begriff „kindgerecht“.
Dass ohne Kinder die Musik keine Zukunft hat, das beginnen so allmählich
die meisten Veranstalter zu begreifen. Und auch, dass man sich nicht
immer mit Peter am Wolf anklammern kann. Dass ohne Musik, oder umfassender
ohne Kunst, der Mensch keine Zukunft hat, das wird noch nicht so
klar gesehen. Beides aber geht Hand in Hand. Die zeitgenössische
Musik hat glücklicherweise viele Tore im Bewusstsein geöffnet,
die den kindlichen Zugang freier machen kann. Da ist die Erschließung
der Geräusche, denen ohne Scheuklappen begegnet werden kann,
da ist die Entwicklung repressionsfreier Modelle, um miteinander
zu musizieren, und da ist vor allem die größere Bereitschaft
von jungen Komponisten, sich Kindern und Jugendlichen zuzuwenden,
was man lange Zeit als Beschneidung des schöpferischen Freiraums
erachtete. Nun konnte man an einem Wochenende gleich zwei große
musikalische Projekte für Kinder erleben: die Oper „Das
schlaue Gretchen“ des tschechischen Komponisten Martin Smolka
(Jahrgang 1959) auf der Probebühne des Nürnberger Staatstheaters
und in der Bonner Kunst- und Ausstellungshalle die Komposition des
österreichischen Komponisten Klaus Lang (Jahrgang 1971) „Der
rote Spiegel“ innerhalb der derzeit laufenden Ausstellung
„Barock im Vatikan“. Die Ansätze waren, das verwundert
nicht, denkbar verschieden.
Der Prager Martin Smolka steht schon seit vielen Jahren auf Kriegsfuß
mit dem Elitedünkel der Avantgarde. „Lasst sie in Ruhe
sitzen, wo sie ist, die arme Musik. Gebt ihr Frieden und setzt Euch
für sie ein. Sie ist eine Frau! Treibt die Musik nicht ‚vorwärts‘;
dringt in ihr Inneres vor und entdeckt ihre verborgenen Winkel,
Musik ist ein Rosengarten“, hatte er einst in einem Manifest
zur Moderne geschrieben. Und dass er wirklich verborgene Winkel
zu entdecken und auszugraben in der Lage ist, das hat jüngst
sein enigmatisch einfaches wie klangintensives Chorstück „Walden“
bei der Münchner musica viva bewiesen. Nun also ein kammermusikalisch
klein besetztes Märchenstück, eine Kompilation der Grimm’schen
Erzählung „Die kluge Bauerstochter“ und von Jan
Werichs „Königin Rolleriana, die Erste“. Der Plot
freilich ist schon in Orffs „Die Kluge“ (und hier nicht
zum ersten Mal) zum Musiktheater gemacht worden. Hier freilich,
beim Libretto des Nürnberger Musikdramaturgen Klaus Angermann,
hing das Ganze etwas durch. Denn es war mit Bedacht kindgerecht,
um dies hässliche Wort zu benutzen, angelegt. Da waren nette
Jokes, Rätselgeschichten, Einbeziehung der zuschauenden Kinder
(absolut gefahrenfrei), überzogene Gestik mit nur wenig innerer
Notwendigkeit. Hier hätte sich der Begriff vom Neuen Musiktheater
durchaus weiter nach vorne lehnen können. Das Betuliche wird
allzu leicht durchschaut und verbleibt im Braven. Ein großes,
wassergefülltes Planschbecken vorne, die Welt des Fischers
mit seiner klugen Tochter und seiner grantigen Frau, eine große
rote Treppe hinten, Symbol für die königliche Macht, schufen
den visuellen Aufriss.
Smolka konnte da nicht immer differenzierend eingreifen. Gerne
spielte die Musik (Leitung: Christian Hutter) exzessiv mit Stotterrepetitionen,
wenn Fischer oder Müller vor dem König um würdige
Ansprache bemüht waren, dann zog sie Zitatschichten heran,
um Plastik der Bedeutung zu unterstreichen. Und da ließ er
es sich auch nicht nehmen, dem über die Einmischung seiner
geliebten Fischerstochter verzweifelten König (er hatte sich
das verbeten) Beethovens „Muss es sein?“ aus dem letzten
Streichquartett op. 135 mit auf den Weg zu geben. Das entlockte
ein Lächeln bei kundigen Eltern, die Musik, hier ist Smolka
hochvirtuos, saß aber auch ohne diesen Wiedererkennungseffekt
passgenau. So rettete die Musik mit verstörenden und bewusst
überzogenen Klangeffekten immer wieder die artig voranschreitende
Erzählung. Dass alles gut endete, verstand sich im Märchenkontext
„Und sie lebten glücklich bis…“ von selbst.
Die Musik wagte so etwas wie eine Apotheose, die dann aber über
ihre überzogene Prunksucht mit eitlen Koloraturen stolperte
und das Unbotmäßige im harten Schnitt abbrach. Solche
Brüche, solche selbstironischen Eingriffe in Schieflagen wussten
immer wieder zu gefallen.
Klaus Lang ließ sich in „Der rote Spiegel“ hingegen
auf Momente des vermeintlich Kindgerechten kaum ein: oder allenfalls
so, dass Fragen aufgeworfen wurden, die ein Kind beschäftigen
und die bis ins hohe Alter nicht gelöst werden. Das Stück
mit der exorbitanten Dauer von eineinhalb Stunden hatte die Form
eines Requiems – weil das Alter mit dem Zustand der Kindheit
korrespondiert, vergleichbar mit dem Sonnenuntergang, der an anderer
Stelle der Welt als Sonnenaufgang erlebt wird, erläuterte Lang.
Die Kuppel des Petersdoms als Spiegelung des Himmelszelts, Kreisbewegungen,
Orts- und Perspektivwechsel standen hinter dieser „Komposition
für junge Stimmen und junges Orchester“. Das eigens aus
Schülern der Bonner Musikschule gegründete junge KlangEnsemble
Bonn unter der Leitung von Sibylle Wagner hatte höchst konzentriert
und mit großer innerer Anspannung zu agieren. Ständig
mussten die Musiker ihre Plätze wechseln, die rund um den großen
und überfüllten Raum nach acht Himmelsrichtungen ausgerichtet
waren. Es entstand eine vorwiegend ganz stille Musik, schwebende
Klänge, in die sich fragmentarische Melodien einnisteten und
die immer wieder Platz machten für von Lang uminstrumentierte
Musikstücke des Mittelalters und der Renaissance. Es war die
Musik, die seinerzeit im Petersdom erklungen ist: Gregorianik und
Stücke von Frescobaldi, Corelli, Gabrieli, Merulo und Luis
de Victoria. Diese Einlagen wirkten wie Zeugen aus vergangener Zeit,
sie blühten auf und verschwanden wieder hinter den sensibel
ausgehörten Klangdom-artigen Schichtungen der Musik Langs.
Eigentlich geschah nicht viel, dennoch riss die Spannung, das Beobachten
der wandernden Musiker (vielleicht zehn bis achtzehn Jahre alt),
das lauschende Erwarten dessen, was von neuer Stelle gespielt wurde,
nicht ab.
Kinder sind ernst zu nehmen bei ihren Fragen über das Wunder
der menschlichen Existenz, über die Kreisläufe des Daseins,
über das Eigentümliche von Perspektiven: Fragen, auf die
im Grunde auch wir nur mit unserem Staunen antworten können.
Und sie wollen herausgefordert werden. Diese Überzeugung Langs
fand im Faszinosum dieser Aufführung, in der Himmelsmechanik
von Musikern wie Klängen, nachdrücklich Bestätigung.
Reize müssen nicht, wie unsere Entertainment-Kultur vorgibt,
ständig überfluten. Der schlichte Blick in die Tiefe kann
ein wesentliches Gegengewicht setzen. Das Wagnis der Askese, das
stille Bewundern der Weite des Raums, des Vorbeitreibens von Zeit
und Geschichte: kindliche Fragen? Sie wurden beim Wort genommen.