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nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 44
55. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Nicht Heiliger und nicht Teufel
Rautavaaras neue große Oper „Rasputin“ in Lübeck
Rasputin? Rasputin, ja: der einflussreiche Günstling des
letzten Zaren; der Vertraute, womöglich sogar Geliebte der
Zarin; Wunderheiler des von den Ärzten aufgegebenen Zarewitsch;
ein saufender sibirischer Bauernbursche, der in den Gemächern
des Hofes zu Hause war. Orthodoxer kirchenfrommer Wanderprediger,
der orgiastische Exzesse mit Nonnen und Mägden feierte; glühender
Pazifist und hemmungsloser Kriegstreiber; prophetischer Verkünder
einer blutigen Zukunft; ein machtbesessener Intrigant, der die Massen
verführte und sich Adel und Duma zu Todfeinden machte. Selbst
sein Ende 1916 war von Unbegreiflichkeiten bestimmt. Vergiftet,
erschossen und erstochen wollte er nicht sterben, und noch als man
ihn endlich ertränkte, soll er immer noch Lebenszeichen gegeben
haben. Zwei Jahre nach ihm werde die Zarenfamilie sterben, hatte
er vorausgesagt – auch darin hat er Recht behalten.
Einojuhani Rautavaara, der Grand Old Man der finnischen Musik,
hat in seiner jüngsten Oper, 2003 in Helsinki uraufgeführt
und bald auch in St. Petersburg gespielt, dem Geheimnis dieser schillernden
Gestalt und der sich um ihn rankenden Mythen nachgespürt, die
nach dem Ende der Sowjetunion und der Öffnung geheimer Staatsarchive
und neuer Dokumente noch facettenreicher geworden sind. Da bestätigt
sich, was schon vermutet wurde: Rasputin war ein Mensch in seinem
Widerspruch, nicht Heiliger und nicht Teufel, anbetungswürdig
so wenig wie verdammenswert.
Gerade dies mag Rautavaara für seine achte Oper gereizt haben
– die Ambivalenz dieser historischen Gestalt, die eindeutig
nicht zu fassen ist und sich in ihren wechselnden und konträren
Erscheinungsbildern spiegelt in den Menschen und Massen, die ihn
in einer aufgewühlten historischen Endzeit umgeben. Rautavaara,
wie immer auch sein eigener Librettist, holt weit aus in diesem
opus summum seines Schaffens; einem bilderreichen Musiktheater,
das fast dreieinhalb Stunden währt, 24 Solistenrollen, einen
riesigen Chor und ein großes Orchester abfordert. Das Werk
hat einen langen Atem, vergleichbar Tolstois „Krieg und Frieden“,
reiht geduldig Szene an Szene, scheint auf den ersten Blick ein
historischer Bilderbogen und ist doch viel mehr: ein ausgespannter
Rahmen für scharf ausgeleuchtete Psychogramme schwer zu fassender
Gestalten in grenzenloser, sprachloser Einsamkeit auch um Rasputin
herum. Der Zar etwa ein Herrscher, der weder Herrschen will noch
kann; die Zarin aus dem Hause Hessen-Darmstadt eine glühende
Russin, die vom Volk als Deutsche abgelehnt wird.
So ausführlich Rautavaara auch sein Zeittableau ausbreitet,
so stringent findet dies zu seiner Form. Epische Breite bindet sich
immer wieder zu dramatischen Ballungen, monologische Porträtstudien
wachsen in grelle, hochgepeitschte Volksszenen. Die zersplitter-
te offene Dramaturgie seiner vorangegangenen großen Oper,
die die Innenwelt des Vincent van Gogh mit seinen subjektivistischen
Wahnbildern spiegelt, gibt Rautavaara auf zugunsten einer gradlinigen
szenischen und musikalischen Erzählstruktur, getragen von einem
dunkel glosenden musikalischen Fluss, der sich in seinen Eckpunkten
ausbreitet zwischen geistlicher Sammlung meditativer Chorgesänge
in orthodoxem Kirchenstil und (frei erfundener) zigeunerhafter Volksmusik,
die nie ein Volk gesungen hat. Rautavaara, inzwischen weit entfernt
von seinen dodekaphonischen Anfängen, liebt heute einen aus
einer unendlichen Melodie wachsenden Duktus verhangener Farben,
düster getönter Intensität und sich lang vorbereitender
geballter Ausbrüche. Diese Musik hat einen ganz eigenen, quasi
aus der Zeit fallenden Ton, auf den man sich einlassen muss. In
Lübeck ist das dem Dirigenten Roman Brogli–Sacher mitsamt
seinen singenden und instrumentalen Scharen mit nie nachlassender,
beredsamer Intensität meisterlich gelungen. Dass diese deutsche
Erstaufführung im Rahmen des alljährlichen Lübecker
Zyklus neuer skandinavischer Opern großes überzeugendes
Format gewann, ist außerdem vor allem auch Marc Adams Inszenierung
zu danken: Bilder wie aus der Welt von Tschechow, in denen die Figuren
in Einsamkeit und Verlorenheit einfrieren, konterkariert durch die
zurückgenommenen, doch überrumpelnden Massenszenen des
Volkes, das am Ende vor blutigrotem Horizont die Schrecken der drohenden
bolschewistischen Revolution heraufbeschwört – und zugleich
einen ästhetischen Vorgriff auf den Konstruktivismus der sowjetischen
Avantgarde wagt, die gerade in Hamburg wie in Wien durch die Malewitsch-Ausstellungen
breit präsentiert wird. Die Titelpartie hat Rautavaara für
Matti Salminen geschrieben. In der Deutschen Erstaufführung
singt sie inmitten des derzeit exzellenten Lübecker Ensembles
Vincent Le Texier, ein hagerer Riese, stimmlich etwas heller als
der finnische Großbassist timbriert, doch von dunkler beschwörender
Gefährlichkeit und einer alles dominierenden Egozentrik. Dass
die mit langen Ovationen gefeierte Aufführung überhaupt
möglich wurde, dankt das Lübecker Theater Christoph von
Dohnányi, dem einstigen GMD an der Trave, und seinem NDR
Sinfonieorchester, die durch ein Benefizkonzert das große
Unternehmen finanziell abstützten – eine schöne
Tat, aber für die Lübecker Bühnen keine Allgemeinperspektive
für die Zukunft. Die Stadt hat, gerade in einer Zeit, in der
das Theater künstlerisch floriert wie schon lange nicht mehr,
drastische Zuschusskürzungen angekündigt, über die
endgültig noch nicht beschlossen wurde, die aber, sollten sie
eintreten, Gesicht und Gewicht der Bühnen schwer beschädigen
würden, und das ausgerechnet, nachdem sich die Stadt als Kulturhauptstadt
Europas beworben hatte und in jeder Politiker-Rede so gern Thomas
Manns „Lübeck als geistige Lebensform“ beschworen
wird.