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nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 46
55. Jahrgang | April
Oper & Konzert
„Schließlich bin ich musikalisch geboren“
„Mehr Platz zum Fliegen“ – ein Film von Anja
Christin Winkler in Nürnberg
„Rythm is it“, dem Film über das „Sacre“-Projekt
der Berliner Philharmoniker, der die rhythmisch-musikalische Arbeit
mit über 400 Kindern und Jugendlichen darstellt, ist es gelungen,
Bedeutung und Erfolg solcher Arbeit einer breiten Öffentlichkeit
bekannt zu machen. Einer Öffentlichkeit, die weit über
das Publikum hinausgeht, das solche Dinge normaler-weise wahrnimmt.
Viele ähnlich verdienstvolle Projekte bleiben mehr oder weniger
im Dunkeln. Allenfalls Eltern und Freunde der beteiligten Kinder,
mit etwas Glück ein Reporter der lokalen Tageszeitung, erleben
im Regelfall Ergebnisse einer oft höchst engagierten und kompetenten
Arbeit mit Kindern.
Gezeigt
wurde „Mehr Platz zum Fliegen“ in der Nürnberger
Villa Leon, verbunden mit einer Expertendiskussion über
„Musik und Bewegung für Kinder“. Foto:
Jutta Missbach
Immerhin: In Nürnberg, wo die Kooperation der Musikschule,
des Kinderkulturforums und des Theaters Mumpitz zu einer Aufführung
der Oper „Jupiterlandung“ von Peter Maxwell Davies geführt
hatte, ist ein „Making-Off“-Film entstanden. Sehr anschaulich
präsentiert er die Entstehung einer Inszenierung, die zugleich
behutsame wie energische musikalische, rhythmische und szenische
Arbeit der künstlerischen Leiterin mit Kindern. Regisseurin
Anja Christin Winkler stellt in ihrem Film „Mehr Platz zum
Fliegen“ sensibel und mit einem Gespür für das Besondere
dieser Arbeit Interviews mit Verantwortlichen und beteiligten Kindern
sowie eine Dokumentation der Arbeit auf und hinter der Bühne
zusammen. Gezeigt wurde der Film in der Nürnberger Villa Leon,
verbunden mit einer Podiumsdiskussion über „Musik und
Bewegung für Kinder“, zu der Experten aus der ganzen
Republik geladen und gekommen waren. Grazyna Przybylska-Angermann,
Initiatorin, Organisatorin und künstlerische Leiterin der Opern-Aufführung,
zeigt im Film, wie Kinder mit ihrem natürlichen Gespür
für Rhythmus und Musik in konzentrierter Arbeit hingeleitet
werden auf ein „Endprodukt“, das schließlich nicht
nur zum intensiven musikalischen und rhythmischen Erlebnis beiträgt,
sondern auch das Selbstbewusstsein der Beteiligten stärkt.
Bewegend, wie einer der Solisten, dem die spielerischen und rhythmischen
Bestandteile seiner Rolle offensichtlich leicht fallen, plötzlich
die Hemmschwelle überwindet und selbstbewusst-sicher zu singen
lernt. Und treffender hätte es niemand sagen können als
einer der von seiner eigenen Leistung durchaus überzeugten
„Jupiteraner“-Darsteller: „Schließlich bin
ich musikalisch geboren“.
Dieses Zitat schaffte dann auch den Weg in das anschließende
Podiumsgespräch unter der Moderation von Theo Geißler.
Über die Bedeutung der musikalischen und rhythmischen Arbeit
mit Kindern noch vor der Pubertät waren sich die Redner einig.
Heiner Gembris vom Institut für Begabtenforschung Paderborn,
sprach von der „Offenohrigkeit“ von Kindern bis ungefähr
zur zweiten Grundschulklasse. Bis dahin, so Gembris, seien Heranwachsende
für alle Musikgenres offen. Es folgt die von Staatsopernintendant
Wulf Konold erwähnte „Latenzzeit“, die mehr oder
weniger lange dauert, in der sich Jugendliche von der Musik abwenden.
Widerspruch eines Hauptschullehrers aus dem Publikum: Eine Latenzzeit
gäbe es nicht. Nichts habe gerade für Jugendliche eine
so große Bedeutung wie Musik. Allerdings haben in dieser Zeit
Mozart und Schubert keine Chance mehr gegen Tokio Hotel und Madonna.
Dies müsse doch in der Lehrerausbildung berücksichtigt
werden. Ist das wirklich so, fragt Renate Kühnel, die in Regensburg
Sozialarbeiter und -pädagogen zu Musik- und Bewegungserziehern
ausbildet. Sie widerspricht mit ihrer Frage der These, man müsse
die Jugendlichen dort abholen, wo sie stehen. Rock- und Popmusik,
so Kühnel, stelle für Jugendliche eine Abgrenzungsmöglichkeit
von der Welt der Erwachsenen dar, eine Art der natürlichen
Protestbewegung, die man ihnen nicht unbedingt nehmen solle.
Hauptsächlich ging es im Gespräch um die Bedeutung der
rhythmischen Erziehung. Diese brauche zur Rechtfertigung eine Forschungsgrundlage,
meint Sabine Vliex von der Musikhochschule Trossingen. Und das,
obwohl der Bereich auf der einen Seite so komplex sei, auf der anderen
Seite nur in der Praxis erfahrbar, dass eine adäquate Forschung
kaum möglich sei. Wichtig ist auf jeden Fall eine qualifizierte
Ausbildung von Lehrern und Erziehern, die rhythmisch-musikalisch
mit Kindern arbeiten. Die aufgrund von PISA allseits herbei zitierten
Ganztagsschulen stellen in diesem Zusammenhang Chance und Gefahr
dar. Chance, weil die Nachmittagsbetreuung durchaus Raum geben könnte
für eine nachhaltige rhythmische und musikalische Arbeit. Die
Gefahr jedoch lauert nicht nur in der denkbaren kompletten Ausgrenzung
der so genannten „soft skills“ aus der schulischen Betreuung.
Kontraproduktiv wären auch Modelle, in denen nicht ausgebildete
Multiplikatoren, weil sie „billiger“ zu haben sind,
qualifizierte Fachkräfte ersetzen. Was tun, um den Zielen der
anwesenden Ausbilder, Wissenschaftler und Praktiker näher zu
kommen? „Die Politik überzeugen“ lautete die Forderung
vom Podium wie aus dem Publikum. „Politik“ war durchaus
anwesend bei der Präsentation des Films. Zumindest teilweise
hatte sie sich rechtzeitig vor Beginn der Podiumsdiskussion verabschiedet.
Jedenfalls hielten sich Politikvertreter in der – ansonsten
lebhaften – Diskussion zurück. Eigentlich schade: Das
positive Beispiel hätte Anstoß sein können für
ein Umdenken. Das allerdings kann nicht in der Politik, sondern
muss in der Gesellschaft beginnen.