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nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 43
55. Jahrgang | April
Oper & Konzert
Opernlaboratorium entdeckt das Musiktheater der Zukunft
Das Stuttgarter „Forum Neues Musiktheater“ mit Uraufführungen
von Hans Thomalla und Hans Tutschku
Die Intendantenzeit Klaus Zeheleins an der Stuttgarter Oper nähert
sich ihrem Ende. Dann wird man das oft falsch benutzte Wort „Ära“
ausnahmsweise einmal mit vollem Recht verwenden können. Eine
der großen Taten der „Ära Zehelein“ war die
Gründung des „Forum Neues Musiktheater“. Das Forum
gehört zwar zur Staatsoper Stuttgart, besitzt jedoch einen
absolut freien, vom Opernbetrieb nicht behelligten Status. Für
das Forum wurde ein eigenes Theater geschaffen, ein verwandelbarer
Raum in einem langgestreckten modernen Gebäude, das auf dem
Gelände des einstigen Römerkastells steht.
Unheimlich
fremd: Die Argonauten betreten das Reich Medeas, diese versteckt
sich im Nebengemach. Bühnenbild: Sebastian Hannak.
Foto: A.T. Schaefer
Der Komponist Salvatore Sciarrino, einer der wichtigsten Musiktheatererfinder
der Gegenwart, geriet beim Anblick des Forum-Komplexes ins Schwärmen:
„Wo gibt es heute noch Orte wie diesen auf der Welt? Das ist
eine Utopie von Theater, die habe ich hier zum ersten Mal gefunden.“
In der Tat: Im „Forum Neues Musiktheater“ werden nicht
nur neue Werke vorgestellt, die Vorbereitungszeit, der Gedankenaustausch
zwischen Komponisten, Theatermachern, Musikern, Dirigenten, auch
mit dem Publikum, gehören ebenso zur Aufführung. Das Forum
gleicht einem Laboratorium, in dem entsprechend viele Versuchsreihen
angesetzt und durchdekliniert werden, bis schließlich ein
Werk aufführungsreif erscheint.
Zwei Produktionen der letzten Zeit demonstrierten besonders eindringlich
die Richtigkeit des Forum-Konzepts: der 1966 in Weimar geborene
Hans Tutschku schrieb ein Musiktheater nach Gedichten und Briefen
Georg Trakls, dem er als Titel eine Zeile aus dem Gedicht „Abendlied“
gab: „Die Süße unserer traurigen Kindheit“.
In enger Zusammenarbeit mit der Regisseurin Françoise Rivalland
versucht Tutschku Trakls Texte mit musikalischen, szenischen und
bildnerischen Ausdrucksmitteln in einen eigenen, neuen Zusammenhang
zu brin- gen. Fünf Instrumentalisten (das Ensemble ascolta),
zwei Sängerinnen, ein Tänzer sowie Videoprojektionen und
Naturmaterialien, die oft in Trakls Texten erwähnt werden,
erzeugen sozusagen einen authentischen „Raum“, in dem
alle Ausdruckselemente zu einem suggestiven Musik-Bild-Theater verschmelzen,
wobei das beiderseitig entlang den bepflanzten Spielstegen sitzende
Publikum beinahe unmerklich zum Bestandteil der Aufführung
wurde: ein verschworene Gemeinschaft im Namen und im Zeichen Georg
Trakls.
Das zweite neue Musiktheater stammt von dem 1975 geborenen Hans
Thomalla und beschäftigt sich mit dem „Medea“-Stoff.
Thomalla, ein Schüler Hans Zenders, versucht, der thematischen
Komplexität der Geschichte von Jason und Medea dadurch gerecht
zu werden, dass er sie in fünf sogenannte Sequenzen aufteilt,
die jeweils abgeschlossen einen Teil der Ereignisse behandeln: Der
erste Teil, so Hans Thomalla, heißt „drift“ und
beschreibt die Fahrt der Argonauten. Der zweite Teil „fremd“
wurde als erster fertiggestellt und in Stuttgart uraufgeführt
– darauf kommen wir zurück.
Zwischen Natur und Begriff
Der kurze dritte Teil nennt sich „Flucht“, der vierte
spielt in Korinth mit Medeas Kindermord als katastrophischem Höhepunkt.
Der fünfte Teil gilt als Epilog und ist einem a-cappella-Chor
vorbehalten, der die Ereignisse kommentiert und reflektiert.
Interessant ist an dieser Arbeitsweise, dass der Komponist bisher
nur den Stuttgarter Auftrag für „fremd“ ausgeführt
hat, für die Komposition der anderen Teile wartet er auf weitere
Aufträge, einzeln oder für den ganzen Rest. Man muss auch
als Künstler mit den Kräften sparsam umgehen.
Hans Thomalla hat sich zu seinen Absichten mit „fremd“
ausführlich selbst geäußert. Er sieht in dem Argonautenmythos
unter der Oberfläche des militärischen Konflikts zwischen
Griechen und Kolchern, gleichsam auf zweiter Ebene, den Konflikt
zwischen Natur und Begriff: „Die Verdinglichung des Anderen,
der Natur in uns und außer uns, nimmt ihren Anfang in der
Landung der Argonauten in Kolchis, dem fremden, unbezwungenen Land.
Die Begegnung zweier Welten spitzt sich zu in der Begegnung Jasons
und Medeas. Die Königstochter mit magischen Kräften, den
Elementen verbunden, ungezähmt, Barbarin in griechischer Perspektive,
und der heimatlose Zweckrationalist Jason sind voneinander angezogen.
Die verschiedenen Welten bleiben nicht getrennt, sondern sie berühren
einander – die Tragödie, die folgt, ist bekannt“.
Das Beeindruckendste an „fremd“ ist, dass es Thomalla
gelingt, das Prozesshafte in der „Begegnung zweier Welten“
in Musik zu fassen, in Klänge, Geräusche, Gesang. Um die
„Natur“ in Kolchis musikalisch zu beschreiben, reiste
der Komponist an die Mündung des Phasis im heutigen Georgien,
hielt die Geräusche dort – Vogelstimmen, Klopfen, Motorenlärm,
Hupen in der Ferne – auf Tonband fest, um sie dann mittels
der Instrumente allmählich zu einer eigenen „Klanglandschaft“
zu entwickeln, in der die „Natur“ der Tonerzeugung die
Führung übernimmt.
Die Instrumente reflektieren gleich-sam sich selbst. Es ist faszinierend
zu hören, mit welcher Raffinesse Thomalla dem kleinen Instrumentarium
mit Trompete, Tenor-Posaune, Violoncello, Klavier, Gitarre und reich
bestücktem Schlagzeug diese „Klanglandschaft“ förmlich
ablauscht, um sie im selben Atemzug überhaupt erst zu erstellen.
Das Ensemble ascolta realisiert das mit höchster Klangsensibilität
perfekt. Man muss bei Thomallas „fremd“ die Erinnerung
an jedwede Form von Oper vergessen. Die Musik begleitet, stützt,
akzentuiert nicht eine Handlung mit Personen, sie genügt sich
als Handlungsträger selbst. Das umgreift zugleich den Gesang.
Wenn Medea in den Raum der Bühne eintritt (siehe unser Foto,
wo sich Medea in eine Seitenkammer zurückgezogen hat, während
die Argonauten den ihnen „fremden“ Raum erkunden), erkundet
Medea ihre eigenen Stimmphänomene in Korrespondenz zu den sie
umgebenden Naturklängen: Sie schnalzt mit der Zunge, stößt
Luftgeräusche aus, produziert Vokalglissandi, Triller –
die Stimme agiert autonom als Naturvorgang, dessen Schwingungen
über den Körper sich schließlich in den Raum erstrecken,
diesen als Stimm-Klangraum definierend. Die Sopranistin Sarah Maria
Sun (siehe auch das Bild auf der Titelseite) bewältigt die
vokalen Drahtseilakte mit atemberaubender Perfektion. Mit dem Erscheinen
der Argonauten verändern sich die festen vokalen Kontraste.
Die Argonauten unter Jasons Führung verlieren ihre musikalisch-sprachlichen
Traditionen. Zitate aus Cherubinis „Medea“-Oper und
Textpartikel aus Grillparzers „Das goldene Vlies“ werden
förmlich zerstäubt. Lautsprecher verzerren den Stimmklang
bis zum unartikulierten Schrei.
Duell der Gesangsstile
In diese sozusagen offene Form des Gesangs dringt Medeas Gesang
ein, der sich wiederum in Form und Technik auf tradierte Ausdrucksgestalten
zubewegt, sich verändert. In der Durchdringung der Ebenen lösen
sich die Figuren, ihre Identitäten auf. Jason fühlt sich
selbst zum „Gegenstand“ geworden. Der Kampf Jasons und
Medeas wird quasi als ein Duell ihrer Gesangsstile und -techniken
ausgetragen. Am Ende münden Singen, Instrumentalgestalten und
elektronische Akzentuierungen in eine feste Klangordnung. Die Musik
signalisiert: Medea wird den Argonauten unter Jason nach Griechenland
folgen.
Die szenisch-musikalische Realisation von „fremd“ wurde
dem ästhetischen Anspruch des komplexen Werkes absolut gerecht.
Das Thema „fremd“ ist brandaktuell. Die Stuttgarter
Oper reagierte darauf auch mit ihrer neuen Inszenierung von Puccinis
„Madame Butterfly“. Das nennt man intelligente, reaktionsschnelle
Dramaturgie, die nicht plan aktualisiert, sondern tiefere, oft verdeckte
Schichten in den Werken öffnet. Bei „fremd“ treten
die Argonauten als alltags-kunterbunt gekleidete Spieltruppe auf
– man denkt unwillkürlich an Shakespeares „Sommernachtstraum“-Handwerker.
Auf einer Seitenbühne packen sie aus Koffern ihre Kostüme
aus, als wichtigstes Requisit einen Schutzhelm, wie ihn Rennfahrer
oder Footballer benutzen. Edler eingekleidet ist nur Jason. Das
Entree der Fremdlinge in Medeas „Raum“, wo diese die
Stoffwände mit präparierten Schmetterlingen (Natur) ornamentiert
hat, ist herrlich komödiantisch inszeniert: Hans-Werner Kroesinger,
der dann auch die Begegnungen Jason–Medea mit großer
Innenspannung auffüllt. Neben der schon genannten Sarah Maria
Sun gelingt Stephan Storck mit dem Argonautenführer eine psychologisch
präzis gezeichnete Studie.