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nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 15
55. Jahrgang | April
Forum Musikpädagogik
Mehr Zeit für musikalische Bildung
Tagung der Bundesfachgruppe Musikpädagogik in Soest
Ganztagsschulen bieten die Chance zu einem erleichterten und gerechteren
Zugang zu musikalischer Bildung für alle. Diese Erwartung kann
jedoch nur erfüllt werden, wenn die Aufgaben der Musikpädagogik
neu überdacht und geeignete schulische Rahmenbedingungen geschaffen
werden und wenn darüber hinaus Studium und Weiterbildung Musikpädagogen
und Musiker auf die unterschiedlichen Anforderungen musikalischer
Praxis in Ganztagsschulen vorbereiten.
Die Bundesfachgruppe Musikpädagogik hat sich im Herbst 2005
auf einer Tagung im Landesinstitut für Schule in Soest den
Fragen gewidmet, die sich aus der zunehmenden Einrichtung von Ganztagsschulen
für die Musikpädagogik ergeben: Welche Arbeitsformen am
Vor- und Nachmittag sind denkbar, welche Kooperationen mit welchen
außerschulischen Partnern sind wünschenswert, welche
besonderen musikbezogenen Profilbildungen möglich? Auf einem
Kongress in Königstein hatte der Deutsche Musikrat sich bereits
im Mai 2004 mit der Thematik „Musik in der Ganztagsschule“
beschäftigt (siehe das Positionspapier des DMR unter den Dokumenten
im Themenportal Bildung & Ausbildung des Musikinformationszentrums
im Internet sowie den Beitrag von Brigitta Ritter, ebd.).
Mit der BFG-Tagung wurde die Arbeit fortgesetzt, wobei ein Schwerpunkt
auf den Konsequenzen für die musikpädagogische Aus- und
Fortbildung lag. Mit dem Blick auf eine Reihe erfolgreicher Modelle,
die bereits existieren, aber auch auf Erfahrungen mit Schwierigkeiten,
die sich bei der Umsetzung vielversprechender Konzepte im Alltag
von Ganztagsschulen ergeben können, ging es einerseits um ganz
konkrete Aufgabenfelder und Projekte und die dafür erforderlichen
professionellen Kompetenzen sowie andererseits immer wieder grundsätzlich
um das Selbstverständnis der schulischen Musikpädagogik
und ihr Verhältnis zur Musikpädagogik im Allgemeinen.
Verhältnis Schule/Musikschule
Das Verhältnis von allgemein bildender Schule und Musikschule
wurde aus unterschiedlichen Perspektiven in zwei Vorträgen
angesprochen. Das Referat von Hans Walter (Kultusministerium Hannover)
machte deutlich, welche Gestaltungsmöglichkeiten von politischer
und behördlicher Seite ergriffen werden können.
Wolfhagen Sobirey (Jugendmusikschule Hamburg) erläuterte in
seinem Vortrag die Chancen und Probleme einer funktionierenden Kooperation
mit Ganztagsschulen aus Sicht der Musikschule und stellte die erforderlichen
(und nicht immer gegebenen) bildungspolitischen (auch finanziellen)
Rahmenbedingungen heraus. Viele der damit aufgeworfenen Fragen wurden
in der Arbeitsgruppe weiter verfolgt, die Anne Niessen (Universität
zu Köln) gemeinsam mit Michael Frangen von der Rheinischen
Musikschule Köln leitete. Ausgangspunkt der Diskussion waren
Beispiele aus dem Angebot der RMS wie etwa der für die Offenen
Ganztagsschulen in NRW konzipierte Basiskurs „Singen Tanzen
Musizieren“, an den sich verschiedene weiterführende
Ensembleangebote anschließen können. Bei Interesse bietet
die Musikschule mit den Schulen nachmittags außerdem Gruppen-Instrumentalunterricht
in Bläserklassen an, der durch flexible Strukturen, darüber
hinausgehende Ensemblespielgelegenheiten und die enge Kooperation
der Musikschullehrer mit den Musiklehrern die individuelle Förderung
der Schüler ermöglicht. Die Darstellungen zeigten, wie
wünschenswert es für Ganztagsschulen ist, einen gut organisierten
Kooperationspartner zu haben – mit kompetenten Fachkräften
und den nötigen Voraussetzungen auch für die administrativen
Aufgaben. Probleme entstehen, wenn beispielsweise die für die
gemeinsame Konzeptentwicklung, für Konferenzen und Teamsitzungen
erforderliche Zeit Honorarkräften nicht als Arbeitszeit angerechnet
werden kann. Falk Radisch vom Deutschen Institut für Internationale
Pädagogische Forschung (DIPF) benannte in seinem Vortrag noch
einmal zentrale bildungspolitische Argumente für Ganztagsschulen
wie den zu erwartenden Abbau von herkunftsbedingter Benachteiligung
durch bessere Fördermöglichkeiten und längere Lernzeiten
am Tag für alle. Das Ziel kann jedoch nur erreicht werden,
wenn Ganztagsschule weder die bloß zeitliche Ausdehnung schlechten
Unterrichts bedeutet, noch zur Reduzierung von Lernmöglichkeiten
führt. Für die Musikpädagogik heißt das: Was
bislang an anderen Orten erfolgreich seinen Platz hatte (beispielsweise
der nachmittägliche Instrumentalunterricht in Musikschulen),
darf nicht eingeschränkt, sondern sollte nach Möglichkeit
eingebunden werden. Und dass Zeit für mehr ist, muss bedeuten,
dass die gegebenen Chancen zur musikpädagogischen Innovation
auch ergriffen werden, beispielsweise durch Stärkung musikpraktischer
Anteile und durch Förderung selbständiger Arbeitsformen,
statt die gewohnten 45-Minuten- Unterrichtsstunden in den Nachmittag
hinein zu verlängern.
Wie Ganztagsschulen zur „Entschulung des Musikunterrichts“
beitragen können, wurde besonders deutlich in der Arbeitsgruppe
„Projektarbeit mit MusikerInnen und KomponistInnen“,
die von Barbara Stiller (Hochschule für Künste Bremen)
und Niels Knolle (Universität Magdeburg) betreut wurde. Die
spannenden Berichte (zum einen über die Arbeit eines HipHop-DJs
mit Schülern, zum anderen über eine Projektwoche mit den
Musikern eines Orchesters an einer Grundschule) zeigten, dass Innovation
dort den fruchtbarsten Boden findet, wo integrativ gearbeitet wird
(statt dass lediglich Nachmittagsangebote an den morgendlichen Unterricht
rangehängt werden) und flexibel mit Unterrichtszeiträumen
umgegangen werden kann.
Gleichzeitig wurde in den Darstellungen klar, dass in Projekten
wie diesen nicht nur die Schüler wertvolle musikalische Erfahrungen
machen können, sondern auch die Lehrer und die beteiligten
Musiker vieles dazu lernen (müssen). Die Zeit für gemeinsame
Planungen, Vorbereitungen, Übungen et cetera ist gut investiert
und kann den Charakter einer Fortbildung annehmen. Um alltäglich
und alltagstauglich zu werden, sollte die gemeinsame Arbeit mit
außerschulischen Partnern jedoch möglichst schon Gegenstand
der Ausbildung sein, indem beispielsweise künftige Orchestermusiker
bereits im Studium auf die möglichen pädagogischen Seiten
ihrer späteren Berufstätigkeit vorbereitet werden und
künftige Musiklehrer Kenntnisse über die Institutionen
des Mu- siklebens erwerben, die hilfreich für eine spätere
Zusammenarbeit sind.
Orientierung und Kompetenz
Dass musikalische Bildung in der Ganztagsschule ein verändertes
Verständnis von Schulmusik voraussetzt, wurde auch in der Arbeitsgruppe
von Hans Jünger (Universität Hamburg) und Ursula Meierkord
(Berliner Landesinstitut für Schule und Medien) betont, die
sich Formen des verstärkten Musikunterrichts widmete. Die Aufgabe
des Pflichtunterrichts im Fach Musik bestehe dort in erster Linie
darin, den Heranwachsenden bei der Orientierung in der Vielfalt
möglicher musikalischer Tätigkeiten zu helfen, indem man
sie damit bekannt macht, und sie bei der Auswahl einer eigenen zu
unterstützen. Dadurch dass die Ganztagsschule Angebote bei-
spielsweise zum Erlernen eines Instrumentes und zur Mitwirkung in
einem Ensemble macht, erleichtert sie ihren Schülern den Zugang
zu musikalischer Bildung. Der spezifische Kompetenzerwerb und die
eigentliche Ausübung der gewählten musikalischen Tätigkeit(en)
werden dann vorwiegend im Rahmen von Wahlangeboten stattfinden,
wobei die verschiedenen musikpädagogischen Aufgabenbereiche
selbstverständlich miteinander verknüpft sein müssen.
Die Kooperation der beteiligten Lehrkräfte mit Zeit für
Absprachen, Konferenzen, Konzeptentwicklung und Verwaltung (siehe
oben) ist unverzichtbar; wünschenswert wären Stellen für
Koordinatoren an Ganztagsschulen, die derartige Managementaufgaben
– dazu gehört auch die Organisation von Instrumentenausleihe
und von Veranstaltungen – übernehmen.
Sozialpädagogische Dimension
Die Arbeitsgruppe „Musik in der sozialen Arbeit an und in
Kooperation mit Ganztagsschulen“ beschäftigte sich mit
einem noch anderen Aspekt des Themas und machte deutlich: Musikalische
Bildung in der Ganztagsschule hat auch eine sozialpädagogische
Dimension. Heike-Doreen Klein (Vorsitzende des Förderkreises
für künstlerische Jugendarbeit in Berlin/Brandenburg),
die die Gruppe gemeinsam mit Matthias Flämig (Universität
der Künste Berlin) leitete, erläuterte am Beispiel des
Barnimer Kinder- und Jugendfestivals ihre Ausgangsthesen: Kinder
und Jugendliche brauchen eine ausgefüllte Freizeit, Bestätigung,
Erfolg und Führung zum Erfolg. Musikalische Praxis kann dabei
einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Wenn es um soziale Arbeit
mit musikpädagogischen Anteilen geht, kommen plötzlich
noch andere mögliche Kooperationspartner ins Spiel: Neben Schulämtern
sind an der Durchführung des beschriebenen Musikfestivals Polizei
und Landespräventionsrat beteiligt. Mit der Schaffung von Netzwerken,
die nicht nur einmalige Events, sondern nachhaltige Projekte initiieren,
die zu festen Einrichtungen werden und dadurch neue Initiativen
wecken können, wird unter anderem auch Verantwortung für
eine dauerhafte Finanzierung übernommen. Eine der beruflichen
Aufgaben der Beteiligten (Musikpädagogen) heißt deshalb:
Geldgeber suchen (wobei es genauso viel Überzeugungskraft kosten
kann, private Sponsoren zu gewinnen, wie öffentliche Haushalte
zur Unterstützung zu bewegen).
Wer soll das leisten? Wo sollen die dafür erforderlichen
Kompetenzen erworben werden? Die aktuellen Studienreformen (Stichwort
Bachelor/Master) bieten sicher viele Gelegenheiten, studiengangsübergreifende
Module zu konzipieren, die gemeinsames Lernen und kooperative Praxiserfahrungen
ermöglichen: Nicht nur die noch Studierenden verschiedener
Fachrichtungen, auch schon berufstätige Musiker und Musikpädagogen
könnten in den verschiedensten Projekten zusammenarbeiten.
Und was spricht dagegen, dass Orchestermusik-Studierende Kurse zur
musikalischen Entwicklung im Kindes- und Jugendalter besuchen? Was
ist dagegen einzuwenden, dass Instrumentalpädagogik-Studierende
an Veranstaltungen zur Didaktik und Methodik schulischen Musikunterrichts
teilnehmen? Warum sollten künftige Musiklehrer an allgemein
bildenden Schulen sich nicht mit Kulturmanagement beschäftigen
und in Exkursionen das regionale Musikleben erkunden? Jeder Musik-Studierende
sollte im Verlauf seines Studiums an mindestens einem Projekt teilnehmen,
in dem Musiker, Musikpädagogen und Kinder oder Jugendliche
zusammenarbeiten.
Christian Rolle
Weitere Berichte und Materialien zur Tagung finden sich im Internet
auf der Seite der Bundesfachgruppe unter www.bfg-musikpaedagogik.de