[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 1
55. Jahrgang | April
Leitartikel
Die Musikstadt Nummer eins heißt Stuttgart
Weltmusikfest, Éclat-Festival und spannendes Opern-Theater
· Von Gerhard Rohde
Sicher gibt es in Millionenstädten wie Wien, London oder
Berlin quantitativ mehr musikalische Veranstaltungen, auch hochwertige,
als andernorts. Für die Auszeichnung als eine Musikstadt sollten
jedoch andere Kriterien gelten als nur die reine Zahl. Das könnten
sein: Engagement für die Moderne, also für die Zukunft
der Musik. Auch eine intelligente Dramaturgie, die Inhalte der Musik
immer wieder neu durchdenkt, Querverbindungen aufspürt, die
Vergangenheit nicht nur genüßlich pflegt, sondern auf
ihre unverändert gegenwärtige Wirkung prüft. Schließlich
die Sorgfalt für Interpretationen, die das gedanklich Erarbeitete
adäquat umsetzen: in klangliche, szenische, räumliche
Realität. Eine Utopie? In Stuttgart wird diese Utopie immer
wieder Wirklichkeit. Stuttgart ist im Augenblick die Musikstadt
Nummer eins. Warum?
Titelbild
Sarah Maria Sun und Stephan Storck als Medea und Jason in
Hans Thomallas „fremd“. Foto: H.T. Schaefer
Nicht nur, weil im Juli dieses Jahres die Internationale Gesellschaft
für Neue Musik (ISCM) mit ihren fünfzig Mitgliedsländern
ihr alljährliches „World New Music Festival“ nach
Stuttgart bringt. Die Voraussetzungen, die für diese Auszeichnung
notwendig waren, hat sich Stuttgart selbst durch seine kontinuierliche
Arbeit für die Neue Musik selbst geschaffen. Die Tage der Neuen
Musik Stuttgart, seit einigen Jahren unter dem Titel „Éclat“
firmierend, sind zu einem wichtigen Treffpunkt der Avantgarde geworden,
das neue Theaterhaus auf dem Pragsattel mit seinen vielen Sälen
zu einem idealen Spielort. Die Stuttgarter Oper, unter der Intendanz
von Klaus Zehelein in einer Kritikerumfrage mehrfach zum Opernhaus
des Jahres gekürt, demonstriert mit (fast) jeder Inszenierung,
wie aktuell Opern-Theater heute sein kann – ja sein muss,
damit Fragen nach der Relevanz der Gattung, vor allem vor dem Hintergrund
sich verschärfender ökonomischer Bedingungen, gar nicht
erst aufkommen. Schließlich die Interpretation: Das Orchester
und der Chor der Stuttgarter Oper, das Radio-Sinfonieorchester und,
vor allem: das SWR Vokalensemble liefern für den gedanklichen
Überbau der Stuttgarter Neue-MusikDramaturgie das feste, hochqualifizierte
Fundament. Neue Musik ist für diese Musiker und Sänger
keine Pflichtübung, sondern – man sollte es ruhig einmal
so sagen – Herzenssache. Das spürt man in jedem Konzert,
in jeder Aufführung.
Damit das allgemein Gesagte nicht zu abstrakt klingt, sei es durch
einige Erfahrungen in den vergangenen Wochen gleichsam versinnlicht.
In der Oper begegnete man Glucks „Alceste“ in einer
Inszenierung Jossi Wielers mit der grandiosen Catherine Naglestad
in der Titelpartie: Eine Frau opfert sich für den Mann –
aber das wäre nur die tradierte Sichtweise. Sie widersetzt
sich vielmehr der Anmaßung der Macht. Das ist keinesfalls
von gestern. Dann inszeniert eine junge Regisseurin Puccinis „Madame
Butterfly“, und Klaus Zehelein „spielt“ in seinen
letzten Wochen als Intendant der Stuttgarter Oper noch einmal den
Dramaturgen, der einst in Frankfurt die berühmte Gielen-Ära
entscheidend mitprägte: „Madame Butterfly“ nicht
als kleine intime Tragödie, vielmehr als Chiffre für den
Zusammenstoß zweier Kulturen, die einander fremd sind. Das
Stichwort heißt: „Fremd“. In unmittelbarem Zusammenhang
mit der Puccini-Premiere gibt es im Forum Neues Musiktheater der
Staatsoper Stuttgart eine Uraufführung: Der junge Komponist
Hans Thomalla, ein Zender-Schüler und zeitweilig als Dramaturg
an der Stuttgarter Oper tätig, verfasst eine fünfteilige
Komposition zum Thema „Medea“, deren zweiter Teil unter
dem Titel „Fremd“ im Forum uraufgeführt wurde.
Die Argonauten unter Jason gelangen nach Kolchis und treffen auf
Medea – wie Pinkerton auf Cho Cho San. Mit Musiktheater kann
man auch Spurenlese und Seelenanalyse betreiben, gleichsam ein psychoanalytisches
Netzwerk ausbreiten. Die Einrichtung des Musiktheater-Forums als
Ergänzung zur Staatsopernarbeit zählt zu den Fortschrittstaten
Klaus Zeheleins, deren Effektivität für die weitere Entwicklung
der Musik und des Musiktheaters nicht hoch genug eingeschätzt
werden kann. Wir berichten über die „Fremd“-Aufführung
und die Arbeit des Forums auf Seite 43 dieser Ausgabe.
Über das Stuttgarter „Éclat“-Festival
der Neuen Musik haben wird in der letzten Ausgabe ausführlich
berichtet. Die „Éclat“-Dramaturgie ist seit Jahren
bestrebt, auch neue Formen des Musiktheaters zu erproben, sie komplettiert
so die Anstrengungen der Oper und des Musiktheater-Forums. Der Leiter
des „Éclat“-Festivals, der SWR-Rundfunkredakteur
Hans-Peter Jahn, entwickelt dabei auch einigen „Macher“-Ehrgeiz,
nicht ohne Erfolg, wie die umstrittene „Melancholia“-Produktion
von Wolfgang Florey in diesem Jahr bewies. Mit Hans-Peter Jahn und
Klaus Zehelein besitzt die Stuttgarter Neue-Musik-Szene zwei brillante
Köpfe, die über den gegenwärtigen Tag hinausdenken.
Zu ihrem Verbündeten könnte auch der neue Präsident
des Landesmusikrates zählen: Wolfgang Gönnenwein engagiert
sich ausdrücklich für die Neue Musik.
Ganz einfach wird es ihnen dabei selbst in Stuttgart nicht gemacht.
Das soll hier im Augenblick nicht weiter ausgebreitet werden. Doch
nicht nur Hans-Peter Jahn sorgt sich um das SWR Vokalensemble, das
von Sparmaßnahmen des Senders in seiner Substanz, ja auch
Existenz bedroht ist. Wer die Sänger und Sängerinnen gerade
in einem Konzert in der Stuttgarter Gaisburgkirche erleben durfte,
greift sich an den Kopf, den andere offenbar schon verloren haben,
dass sie dieses einmalige Ensemble irgendwie durch Wegsparen beschädigen
wollen. Wer Kurtágs „Lieder der Schwermut und Trauer“
(op. 18) so perfekt, ausdrucksvoll, mit feinster Empfindung und
klanglich vollendet zu singen versteht, gehört ins Walhalla
der Neuen Musik, nicht ins Sparprogramm.