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nmz 2006/04 | Seite 6-7
55. Jahrgang | April
Magazin

Lähmender Gewöhnung sich entraffen

Ein kritischer Blick auf das Unterrichtsfach „Gregorianik“ in Deutschland

„... blüht jede Weisheit auch und jede Tugend zu ihrer Zeit ...“

Wer demographische Fakten und Statistiken zu lesen und zu interpretieren versteht, kann begreifen, wie viel Zeit der gegenwärtigen Verfassung von Kirche noch bleibt: In mehr oder weniger allen deutschen Diözesen und Landeskirchen stellen die Oberen die Weichen für bedeutend schlankere Strukturen – und das nicht vorübergehend, sondern auf Dauer! Dabei ist es nicht nur das liebe (oder böse) Geld, das fehlt und daher die Verantwortlichen zum Handeln zwingt, will man nicht (wie in den Diözesen Aachen und Berlin fast geschehen) wirtschaftlich in Konkurs gehen. Es sind die rückläufigen Zahlen der Gläubigen bei zugleich stark zunehmender Überalterung der Gemeinden (wie der deutschen Bevölkerung überhaupt), die zum Handeln zwingen.

pag. 13 der Handschrift 390 der Stiftsbibliothek von St. Gallen (Antiphonale des Hartker, Tomus I)“

Bild vergrößernpag. 13 der Handschrift 390 der Stiftsbibliothek von St. Gallen (Antiphonale des Hartker, Tomus I)“

Es hat sich inzwischen herumgesprochen, dass das alles nicht ohne Konsequenzen auf die Kirchenmusik in Ausbildung und Praxis geblieben ist und (wohl noch drastischer) bleiben wird. So wie die Zahl der Gemeinden in Zukunft abnimmt, wird dies auch für die kirchenmusikalischen Stellen (zumindest in hauptamtlicher Verantwortung) gelten. Die Zahlen der Kirchenmusikstudierenden an den Ausbildungsinstituten gehen dementsprechend seit Jahren zurück oder können nur durch geschickte Kombinationen mit anderen Lehrangeboten (wie einer musikpädagogischen Zusatzqualifikation) ihren deutlich niedriger gewordenen Level halten. Was bedeutet dies für die kirchenmusikalische Ausbildung, was für das Fach Gregorianik, das organisatorisch heute immer noch fast ausschließlich im Kontext der Ausbildung zum Kirchenmusiker, zur Kirchenmusikerin steht?

Mit einer Reaktion der Panik und auch mit bloßer Schwarzmalerei wäre nun nichts und niemandem – der Sache am wenigsten – gedient. Wie jede Krise steht auch die der kirchenmusikalischen Ausbildung in einem größeren Kontext gesellschaftlicher Paradigmen, deren Wandel mindestens so viele neue Herausforderungen und Tätigkeitsfelder bieten wird, wie er den Abbau und Umbau bisheriger Strukturen erfordert. Diesem Wandel ein wenig nachzuspüren und vielleicht erste konkrete Konsequenzen für das Fach Gregorianik auszuloten, hat sich dieser Artikel zum Ziel gesetzt.

„... heimisch einem Lebenskreise und traulich eingewohnt ...“

Natürlich erinnern sich alle Lehrenden an den kirchenmusikalischen Ausbildungsstätten gerne an die Blütezeiten in den 70er- und 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als die Bewerberinnen und Bewerber noch Schlange standen, um Kirchenmusik studieren zu können. Dem entsprach die Situation der hauptberuflichen Stellen, die damals in Landeskirchen und Diözesen reichlich vorhanden waren. Als man sich 1980 und 1981 an den Musikhochschulen Essen und München entschloss, hauptamtliche Professuren für die Fächerkombination „Gregorianik und Liturgik“ einzurichten (sie blieben die einzigen ihrer Art in Deutschland), war eine Fokussierung des Lehrangebotes in den kirchenmusikalischen Ausbildungsgängen ganz natürlich. Zum einen war hier ein großer personeller Bedarf, der ausgebildet werden musste. Zum anderen war mit der personellen Besetzung der beiden Lehrstühle in Essen und in München ein fachlicher Paradigmenwechsel eingetreten, der sich auf die Praxis und auch die Lehre des Gregorianischen Chorals in Deutschland nachhaltig auswirken sollte. Mit Godehard Joppich (zuerst München, dann Essen) und Johannes Berchmans Göschl (nach Joppich in München) wurden ausgewiesene Semiologen zu Hochschullehrern. Die von Dom Eugène Cardine in den 60er- und 70er-Jahren entfaltete und in Rom unterrichtete Interpretation gregorianischer Gesänge auf der Basis frühmittelalterlicher Handschriften hatte die Praxis des lateinischen Liturgiegesangs auf völlig neue Wege geführt und sie in einem Maße verlebendigt, das sich kein Konzils-Skeptiker 1965 hatte träumen lassen. Joppich und Göschl waren in der kirchenmusikalischen Ausbildungslandschaft jedoch lange Zeit Monolithen, denen an den anderen Hochschulen eine breite Schicht von Vertretern der „alten“ Solesmenser Schule der Choralinterpretation gegenüber- standen. Umso wichtiger war das Wirken insbesondere des älteren Godehard Joppich, dessen Schüler und Mitstreiter alsbald in der Folgezeit nicht wenige Lehraufträge für Gregorianik an den Musikhochschulen Deutschlands übernahmen. Durch das pädagogische Wirken beider – Joppichs und Göschls – veränderte sich zudem sukzessive die kirchenmusikalische Praxis des gregorianischen Chorals, da viele gerade der jungen Kirchenmusi-kerinnen und -musiker die alten Gesänge neu entdeckten und in neuer lebendiger Interpretation zunehmend wieder in Gottesdienste integrieren wollten. Da dies – wie erwähnt – mit einer Zeit der Hochblüte kirchenmusikalischer Ausbildung zusammenfiel und weitere multiplizierende Faktoren (wie z.B. die Internationalen Essener Sommerkurse, an denen bis zu 220 in- und ausländische Fachleute teilnahmen) hinzukamen, erlebte die Praxis des Gregorianischen Chorals in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen großen Aufschwung.

Zugleich war mit dieser prinzipiell sehr erfreulichen Entwicklung jedoch auch eine problematische Tendenz verbunden: Das Fach Gregorianik wurde nunmehr fast ausschließlich im Kontext der kirchenmusikalischen Ausbildung thematisiert, und das in einer Zeit, in der die Kenntnis um die historischen und theoretischen Grundlagen sowie um die lebendige Praxis des Gregorianischen Chorals in Musikwissenschaft, Musiktheorie und außerkirchlicher Ensemblepraxis immer weiter zurückgingen, ja, schließlich fast bei null angekommen waren.

„... nicht fesseln uns und engen ...“

In Zeiten reichlich fließender finanzieller Mittel setzte an den Hochschulen (wie auch an den Universitäten) eine rasch fortschreitende Ausdifferenzierung des Unterrichtsangebotes ein: Immer mehr Teilfächer wurden durch hauptamtlich Lehrende vertreten, jedes neue Teilfach musste sich profilieren und seine eigenständige Relevanz erweisen. Dies war fachlich sicherlich ein großer Gewinn, geschah aber größtenteils zulasten des die Teilfächer übergreifenden gemeinsamen Daches und einer fächerübergreifenden Konzeption von inhaltlich verwandten oder aufeinander beziehbaren Unterrichtseinheiten. Betrachtet man nun diese beiden Tendenzen (Verlust des Wissens um die Relevanz anderer Fächer einerseits, Spezialisierung andererseits) mit Blick auf das Unterrichtsfach Gregorianik, so liegt die Problematik auf der Hand: Die Fachkompetenzen wurden lediglich auf einen Studiengang konzentriert, während sie in anderen Fächern – in denen sie freilich dringend benötigt wurden – nicht auftauchen konnten oder durften. Welche Rolle spielte (und spielt) der Gregorianische Choral zum Beispiel in der Musikwissenschaft, im Vermitteln der Musikgeschichte? Wiewohl er als prägendes musikalisches Repertoire mindestens vier Jahrhunderte lang in der abendländischen Musikgeschichte prävalent war und auch die Folgezeit der musikalischen Entwicklung maßgeblich beeinflusst hat, wird er in der musikwissenschaftlichen Forschung und Lehre allzu offensichtlich entweder weitgehend übergangen, oder aber er ist mit Berührungsängsten behaftet, die sich nicht zuletzt in terminologischen Verbiegungen äußern.

Wer einschlägige Publikationen (wie die Zeitschrift „Die Musikforschung“) verfolgt, die seit Jahren die Veranstaltungen an musikwissenschaftlichen Instituten dokumentieren, wird bemerkt haben, dass nicht nur Seminare zum Thema „Gregorianischer Choral“ fast überhaupt nicht mehr zu finden sind; der gesamte kirchlich-liturgische Bereich (gewidmet einem musikalischen Repertoire, das einen sehr großen Teil der abendländischen Musik repräsentiert) ist weitgehend mit dem Wort „Fehlanzeige“ belegt. Auch Veröffentlichungen zu den genannten Themen sind selten geworden, worauf im Jahre 2000 bereits Emmanuela Kohlhaas in einer höchst lesenswerten Abhandlung aufmerksam machte: „Es lässt sich kaum leugnen, dass vor wenigen Jahrzehnten noch selbstverständliches Basiswissen nicht mehr gelehrt wird und daher verloren zu gehen droht.“1 Wo das Wissen um die Geschichte, die Formen und die Tonarten des Gregorianischen Chorals schwindet, steht auch die Kenntnis um die Geschichte der mehrstimmigen Musik auf tönernen Füßen. In diesem Zusammenhang ist es aufschlussreich, wenn eine der wenigen größeren Publikationen, die im Jahre 2000 erschienene „Lehre vom einstimmigen liturgischen Gesang“2 nicht nur fast verschämt liturgisches Basiswissen meint darlegen zu müssen, sondern kommentarlos die Begriffe „Gregorianik“ oder „Gregorianischer Choral“ beziehungsweise „Gregorianischer Gesang“ vermeidet. Abgesehen von den fachlichen Defizienzen, die ein solcher Sprachgebrauch verursacht:3 Entweder ist die Verunsicherung im Umgang mit dieser Materie bereits so groß, dass man zu fragwürdigen sprachlichen Surrogaten Zuflucht nehmen musste, oder aber die bisher bewährten und benutzten Termini wurden nun stillschweigend unter Ideologieverdacht gestellt: Manchen mag die enge Symbiose zwischen Gesang und Text, Liturgie und Theologie irritiert haben. Die Komplexität, die daraus resultiert, dass der Gregorianische Gesang primär eben nicht als musikalisch, sondern textlich evoziertes Geschehen angesehen wird, stellt für den rein in Sparten denkenden Wissenschaftler eine wissenschaftssystematische Überforderung dar, da Aspekte synoptisch zusammengelesen werden müssen, die in verschiedenen und für ihn nicht immer verfügbaren Bereichen beheimatet sind: Kirchen- und Liturgiegeschichte, Geschichte der Auslegung von Heiliger Schrift, Paläographie, Musiktheorie.
Aber auch diese Medaille hat zwei Seiten: Zwar ist zweifelsohne festzuhalten, dass gerade im Bereich der gregorianischen Paläographie inzwi-schen beeindruckende und auf diesem Fachgebiet singuläre wissenschaftliche Standards gesetzt worden sind. Dies bezieht sich zunächst auf die in der Fachzeitschrift „Beiträge zur Gregorianik“ dokumentierten kodikologischen Abhandlungen über die zentralen Handschriften des Gregorianischen Chorals, aber auch auf die in angemessener Behutsamkeit vorgenommene Annäherung an die Melodiefassungen, die sich aus den (früh-) mittelalterlichen Handschriften erhe-en lassen. Darüber hinaus haben die Praktiker des Gregorianischen Chorals – und damit sind in erster Linie die Vertreter der gregorianischen Semiologie gemeint, die inzwischen fast konkurrenzlos gregorianische Praxis und Lehre bestimmt – wenig bis nichts getan, um den „garstigen Graben“ zwischen der Musikwissenschaft und der Musiktheorie auf der einen und der musikalischen Praxis auf der anderen Seite zu überwinden. Eher im Gegenteil: Auf mehreren Kongressen und Versammlungen war von führender Seite der Semiologen zu vernehmen: „Non siamo musicologisti!“ – Wir sind keine Musikwissenschaftler! Und dies war kein Ausdruck demütiger Selbstbescheidung, sondern gleichsam ein „Schlachtruf“ im Kampf um die gregorianische Lufthoheit. Dabei hätte schon mit Blick auf die benutzten Fachtermini, besonders aber hinsichtlich der sprachlichen Attitüden einer unverhohlenen „Genieästhetik“4 und der auch liturgietheologisch notwendigen Überwindung eines Anspruchs auf „authentisches Musizieren“ eine kritische wissenschaftliche Reflektion wohl getan.

„... und darf nicht ewig dauern ...“

Kehren wir in die Gegenwart zurück, dann ist die Bilanz dieser Entwicklung ernüchternd. Die Gregorianik sitzt offensichtlich zunehmend zwischen allen Stühlen: in der Lehre und Forschung von Musikwissenschaft und Musiktheorie erwiesenermaßen fast nicht mehr bekannt oder beheimatet – im Studium der Kirchenmusik zwar noch verortet, aber aufgrund dramatisch zurückgehender Studierenden- und Stellenzahlen immer weniger gefragt – in der gottesdienstlichen Praxis vieler Kirchengemeinden deutlich auf dem Rückzug.5 Was geschähe, wenn man die Zahl kirchenmusikalischer Ausbildungsstätten aufgrund dieser gesunkenen Bedarfslage noch weiter reduzierte und man in der Musikwissenschaft die Gregorianik allein schon deswegen nicht vermissen würde, weil die Lehrenden und Forschenden fast nichts mehr von ihr wissen? Wäre das dann das Ende dieser Disziplin, dieser Kunst?

Nein – denn andere Befunde stehen dem entgegen6: In dem Maße, in dem die gregorianischen Gesänge aus der liturgiemusikalischen Praxis der Kirche ausgezogen zu sein schienen, kehrten sie in kirchenmusikalischen Andachten und Konzerten wieder zurück. Sie fanden Eingang in die Charts der Klassik- und Pop-CD-Kultur, auch wenn hier ein eher am Sound orientiertes Interesse vorlag. Kurse, die Theorie, Geschichte und Praxis des Gregorianischen Chorals zum Inhalt haben, sind nach wie vor voll bis überfüllt. Und nicht zu vergessen: Die Musikwissenschaft bleibt ohne eine mindestens solide Kenntnis der Geschichte und der theoretischen Grundlagen des Gregorianischen Chorals amputiert – ein Zustand, mit dem man sich nicht abfinden darf. Dies alles sind Argumente mehr als genug, über eine Neukonzeption des Unterrichtsfaches „Gregorianik“ an den Musikhochschulen nachzudenken – umso mehr, als sich die „klassische“ Musikwissenschaft immer mehr von den Universitäten auf die Musikhochschulen zu verlagern scheint, die auf diesem Wege zu „Musikuniversitäten“ werden könnten. Dieser Prozess bietet die unleugbare Chance, Theorie und Praxis, wissenschaftliche Reflektion und Vollzug, zusammenzubringen – freilich nur, wenn nicht eine Seite versucht, sich gegen die andere zu profilieren!

„ ... in Tapferkeit und ohne Trauern sich in andre, neue Bindungen zu geben ...“

Man mag mit gutem Grund der Übertragung des aus dem anglo-amerikanischen Bereich stammenden und durch den „Bologna-Prozess“ auch Europa verordneten Studiensystem der Bachelor- und Masterexamina reserviert gegenüberstehen – einen Vorteil haben diese mit Sicherheit: Die Ordnung in Module (mehrsemestrige Einheiten, die unter einem fachlich-thematischen Aspekt zusammengefasst und von verschiedenen Disziplinen bedient werden) bietet die Chance, Zusammengehörendes fächerübergreifend zu vernetzen und damit einen unseligen Partikularismus zu überwinden, der weder inhaltlich angemessen noch pädagogisch sinnvoll ist. Das Unterrichtsfach „Gregorianik“ mit seiner von einem Fach allein nicht fassbaren Komplexität bietet sich hierfür geradezu an. Natürlich wird die Kirchenmusikausbildung, die es (in welchem Maße auch immer) auch künftig in Deutschland noch geben muss und wird, ein erster und wichtiger Ort der „Gregorianik“ bleiben. Es gilt nun aber, die Inhalte dieses Faches nicht mehr zu isolieren, sondern gleichsam „quer“ zu lesen und damit für andere Studiengänge nutzbar zu machen.

Im Einzelnen ließe sich diese Verflechtung wie folgt konkretisieren:
Für den musikwissenschaftlichen Kontext sind unter anderem die Aspekte „Geschichte der Entstehung und Entwicklung des Repertoires, Formenkunde, Paläographie der Musik, aufführungspraktische Gesichtspunkte, Interdependenz zwischen Ein- und Mehrstimmigkeit“ besonders zu thematisieren. Mit Blick auf die Musiktheorie können dies die Themen „Tonartenkunde/Reflektion der Modologie, rhythmische Phänomene melodischer (nicht vertikal gebundener) Linearität, Historie der Musiktheorie“ sein. Gerade mit Blick auf das letztgenannte Thema ergibt sich auch eine Querverbindung zur Musikpädagogik, insofern thematisiert werden kann, wie zu welcher Zeit die Einstimmigkeit theoretisch reflektiert und unterrichtet wurde. Es ist in diesem Zusammenhang nicht uninteressant, dass nicht wenige musiktheoretische Traktate des (Früh-) Mittelalters als Dialoge zwischen Schüler und Lehrer gestaltet sind, mithin also einen pädagogischen Fokus haben. Des Weiteren dürfte für die Musik in der heutigen Schule von Bedeutung sein, dass es sich beim Gregorianischen Choral nicht nur um das früheste, sondern wohl auch um das einzige musikalische Repertoire handelt, das seit seiner Entstehung bis heute aktuell geblieben ist – wenn auch durch die Zeiten hindurch in unterschiedlicher Intensität.

Ein bisher weitgehend ausgesparter Bereich ist die praktische Arbeit mit vokalen Ensembles, als deren Teile natürlich auch Scholasingen und Scholaleitung zu gelten haben. Hierbei können „Methodik der Scholaleitung, Scholadirigat auf Neumenbasis, freirhythmische Monodie als stimmtechnische und musikalische Herausforderung“ behandelt werden. Mit Blick auf die Tatsache, dass die klassische Chorleitung insbesondere in den kirchenmusikalischen und musikpädagogischen Studiengängen künftig immer mehr diversifiziert werden muss (Erwachsenenchor, Kammerchor, Jugendchor, musikalische Arbeit mit Kindern), ist zu überlegen, ob nicht auch die Scholaleitung Teil eines oder mehrerer Module sein muss, die die „Arbeit mit vokalen Ensembles“ zum Inhalt haben.

An der Folkwang Hochschule Essen hat man versucht, diesen neuen Erfordernissen dadurch Rechnung zu tragen, dass zum einen ein Bachelor-/Master-Studiengang „Musikwissenschaft mit künstlerischem Hauptfach Gregorianik“ eingerichtet und zum anderen ein Master-Studiengang „Leitung vokaler Ensembles“ projektiert wurde, zu dem auch die Arbeit mit einer Schola gehört. Zugleich „beliefert“ die Gregorianik auch die klassische Musikwissenschaft, indem die historischen und systematischen Grundlagen als Wahlpflichtseminar zum Beispiel im Studiengang „Lehramt Musik“ belegt werden können.

„Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.“

Hermann Hesses Gedicht „Stufen“ hat uns durch diesen Artikel begleitet. Seine Aufforderung, sich mit Erreichtem nicht zu bequemen, hat bleibende Aktualität. Im Fall des Unterrichtsfaches Gregorianik steht uns diese klar vor Augen: Keiner kann und wird den bleibenden kulturellen Wert dieses Repertoires bestreiten können. Es bleibt für die Ausbildungslandschaft nicht nur der Kirchenmusik ein nicht wegzudenkender Pfeiler. Dennoch ist es in der Gefahr, sich aus „lähmender Gewöhnung“ selber zu marginalisieren und folglich im Zuge rein technischer Relevanzdebatten schließlich fast völlig zu verschwinden. Dies würde zu unserer Zeit passen, in der viele Verantwortliche so wenig vom historischen Werden unserer Kultur verstehen, dass sie nur das Wenige gelten lassen, was sie aktuell begreifen können. „Aufbruch und Reise“ sind für das Unterrichtsfach Gregorianik keine taktischen Spiele der Besitzstandwahrung; sie sind nicht weniger als die Überlebensfrage eines Fachgebietes, das für Praxis und Theorie unserer kirchlichen und musikalischen Kultur schlichterdings unverzichtbar ist.

Stefan Klöckner

Anmerkungen

1 Kohlhaas, Emmanuela. Dialog oder Rückzug ins Ghetto? Gregorianische Semiologie und Musikwissenschaft – einige Anmerkungen, in: Beiträge zur Gregorianik 30, Regensburg 2000, S. 43–56. Das folgende Zitat findet sich auf S. 44.
2 Huglo, Michel/Atkinson, Charles M./Meyer, Christian/Schlager, Karlheinz/Phillips, Nancy, Die Lehre vom einstimmigen liturgischen Gesang (= Ertelt, Thomas/Zaminer, Frieder. Geschichte der Musiktheorie, Bd. 4). Darmstadt 2000.
3 Vgl. hierzu Kohlhaas, Dialog oder Rückzug ins Ghetto?, S. 46.
4 Kohlhaas, Dialog oder Rückzug ins Ghetto? bringt hierfür treffende Beispiele – S. 46 und 55, Anm. 14.
5 In der vom Deutschen Liturgischen Institut dokumentierten Akzeptanzerhebung zum aktuellen katholischen Einheitsgesangbuch „Gotteslob“ ist zum Gregorianischen Choral folgende Passage zu finden: „Die gregorianischen Gesänge spielen in den meisten Gemeinden kaum noch eine Rolle. Sie seien zu abstrakt, zu wenig die Emotionen ansprechend, fremd, ungewohnt, zu schwierig. Deshalb sprechen sich viele für eine quantitative Reduzierung aus.“
6 Vgl. zum Folgenden: Klöckner, Stefan, Cantando praedicare. Verbindungslinien zwischen Liturgie, Theologie und Musik, dargestellt anhand des Gregorianischen Chorals, in: Harmsen, Edith/Willmes, Bernd (Hg.), Musik in der Liturgie. Fulda o. J. (2001), S. 19–38, bes. S. 19–22.

 

 

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