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nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 6
55. Jahrgang | April
Magazin
Der Beruf des Musikers ist nichts Selbstverständliches
Einblicke in Raine Maidas Alltag als Songschreiber und Sänger
der kanadischen Rockband Our Lady Peace
Mit Raine Maida könnte man stundenlang reden. Tagelang wahrscheinlich.
Dabei Bier trinken, durch die Wälder Kanadas streifen und Stunde
um Stunde auf Berggipfeln und ins Tal blickend verbringen. Raine
Maida ist ziemlich sicher der beste Kumpel, den wir aus Literatur
und Medien kennen. Er hat was zu sagen, ist ein Hinterfrager, kann
lachen, leiden und Emotionen zeigen. Seine Standpunkte nimmt man
ernst. So weit, so gut. Gäbe es da nicht ein klitzekleines
Problem:
Our
Lady Peace beim Abspannen
Auf Raine Maida lastet seit nun zehn Jahren die Bürde, Sänger
und Songschreiber der kanadischen Rockband Our Lady Peace zu sein.
Eine zerfleischende Position, die alle weiteren Beteiligten –
Duncan Coutts (Bass), Jeremy Taggart (Schlagzeug) und Steve Mazur
(Gitarre) – viel abverlangt, sie oft bis an die Grenzen des
Wahnsinns treibt. Musikalisch wie menschlich. Nicht umsonst liegt
das letzte Our-Lady-Peace-Album 1165 Tage zurück. Oder 6000
Gigabyte Speicherplatz auf unzähligen Festplatten. Oder Ausgaben
in Höhe von 11.000 Dollar für Essen während der 1.165
Tage. Oder zehn verschiedene Aufnahmestudios. Oder 220 Flugstunden,
um „Healthy in Paranoid Times“ aufzunehmen. Sogar der
Ausnahmeproduzent Bob Rock (u.a. Metallica, Bon Jovi) wurde während
dieser Zeit gefeuert. Die Aufnahmen balancierten ständig zwischen
dem Ende der Band und dem nächsten wichtigen Schritt. „Wenn
ich so zurückdenke, gingen wir damals an die Arbeit, um ein
Album zu machen, das uns definieren sollte. Auf keinen Fall sollte
das Album fürs Radio sein oder in eine Schublade passen. Wir
haben viele Songs aufgenommen, Verschiedenes versucht und viel Geld
ausgegeben. Frustration machte sich breit. Wir haben Bob Rock gefeuert,
der eigentlich fast als Bandmitglied fungierte. Die Band hat sich
aufgelöst und fand wieder zusammen. Wir haben in L.A. aufgenommen,
in Toronto und was weiß ich wo. Keine Höhen und Tiefen
wurden ausgelassen.“ Raine Maida unterbricht seine Erzählungen
immer wieder, holt kurz Luft, seufzt und redet sich die Tiefen von
der Seele.
Schon der erste Song des Albums, „Angels/Losing/Sleep“,
weist auf diese Spannungen in der Band und im Aufnahmeprozess hin.
Bedächtig beginnt Raine Maidas Gesang, uns in den Schlaf zu
singen, bevor fiese Gitarrenriffs das Wogen jäh unterbrechen.
Wie kam die Band insgesamt mit diesem Spannungsumfeld zurecht? Resignation,
Wut, Motivation? „Weder noch“, erklärt Raine Maida.
„Es war sicher für alle hart. Wir wollten das Album schneller
machen, als wir konnten. Das hat Druck erzeugt. Wir haben uns die
43 fertigen Songs angehört und waren der Meinung, dass nicht
alle Albumtauglich sind. Und dieses Mal sollten alle Songs cool
sein; nicht nur drei oder vier wie auf früheren Alben. Wenn
die Spannungen zu groß wurden, haben wir die Arbeit unterbrochen
und gingen uns wochenlang aus dem Weg.“ Da staunt man. Schließlich
ist OLP keine Anfängerband. Zehn Jahre haben sie im Kreuz.
Wobei eventuell einige der Bandprobleme hausgemacht waren. Jeder
der Musiker war nebenbei in andere Projekte verstrickt. Raine Maida
stellte sich als aktives Mitglied der Benefiz-Organisation „War
Child“ zur Verfügung und bereiste in den vergangenen
drei Jahren den Irak, Darfur und den Sudan, um bei den Dreharbeiten
zu Dokumentationen über die Armut, das Leid und den Stolz der
Menschen in diesen Gebieten zu helfen.
Da bleiben Umdenkprozesse nicht außen vor. „Klar haben
wir uns das Leben selbst schwer gemacht“, gibt Raine Maida
zu. „Als ich nach ein paar Wochen Sudan ins Studio kam und
meine Texte hörte, habe ich den anderen gesagt, dass diese
Texte zu den Songs mir nichts mehr bedeuteten und ich sie so nicht
singen könnte. Es müssen drei neue Songs her. Ich dachte
ehrlich gesagt, dass sie mich umbringen, aber man verändert
sich, wenn man in diesen Kriegsgebieten ist. Die Band hat das verstanden,
nur wussten wir, dass uns das wieder sechs Monate im Zeitplan nach
hinten wirft.“
Und so liegt in jedem Song das unerschöpfliche Spektrum der
OLP-Band-emotionen. „Where are you“ ist da zu nennen.
Ein schneller moderner Rocksong, der sich zum Ende hin in einen
Midtempo-Soul-Refrain auflöst, der das gesamte Glück der
Band zu reflektieren scheint. Erlösung quasi. „Absolut
richtig“, pflichtet Raine Maida bei. „Doch exakt an
dieser Stelle sieht man, wie wir an diesem Album gearbeitet haben.
Nichts wäre einfacher gewesen, als diesen Song mit diesem Rockriff
und seiner Schnelligkeit bis zum Ende weiterlaufen zu lassen. Aber
wir fanden eine andere Lösung. Das verleiht dem Song Tiefe
und ist symbolisch für das Album.“ Und bei dieser Tiefenforschung
begannen OLP, mit den Refrains zu spielen. Oft werden die Refrains
kurz angedeutet, bevor eine neuerliche Strophe oder ein Pre-Chorus
die Spannung steigert. „Wipe that smile off your face“
oder „Love and Trust“ sind da Paradebeispiele. Man spielt
mit dem Refrain, lässt ihn aber zur richtigen Zeit hochgehen.
„Ja, ja, ja“, meint ein enthusiastischer Raine Maida.
„Exakt das meine ich mit ‚an einem Album arbeiten‘.
Die Songs wären im normalen Schema F nicht schlecht. Aber durch
das Verzögern werden sie interessant, gewinnen an Perspektive.“
Ein weiter Einblick, den Raine Maida gewährt. Fehlt noch
die Quintessenz, sein Fazit. Nicht zur Platte, eher zum Leben als
Musiker. Oder wie der Musiker mit dem Menschen lebt. „Wenn
ich Eines gelernt habe in den zehn Jahren OLP, dann, dass man den
Beruf Musiker nicht als selbstverständlich hinnehmen darf.
Man kann es sich einfach machen. Song um Song. Album um Album. Beim
Album ‚Gravity‘ haben wir das so gemacht. Wie gesagt,
drei gute Songs auf einem Album können reichen. Aber sich dem
zu stellen, was eigentlich machbar ist, das ist die Herausforderung.
Wir haben es gewagt und unserer Ansicht nach ist uns das mit ‚Healthy
in Paranoid Times‘ gelungen. Wir haben uns eben Zeit genommen.“