[an error occurred while processing this directive]
nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 12
55. Jahrgang | April
Nachschlag
O süße Musik
Ein Symposion, das jetzt im März von der Münchner Gesellschaft
für Neue Musik veranstaltet wurde, stellte sich die Frage nach
Neuer Musik und gesellschaftlicher Relevanz. Der große Andrang
bewies, dass dieses Thema für viele von Interesse ist. Man
darf vermuten, dass die gleiche Fragestellung in Bezug auf zeitgenössische
Bildende Kunst oder auf zeitgenössische Literatur weit weniger
Brisanz in sich tragen würde. Freilich bedient man dort auch
eine Minderheit, aber es ist immerhin die der allgemein Kunstinteressierten
oder die der anspruchsvollen Leser.
Bei der Musik ist das nicht so. Viele, die Schubert oder Mahler
lieben, die sich in Beethovens letzten Quartetten zuhause fühlen,
lehnen Stücke eines Nono, Cage oder Lachenmann ab – bis
hin zum Argument, das sei keine Musik mehr. Und wohl in keiner Kunstgattung
hat man schon öfter das Ende erblickt als in der Musik (die
Kirche begann schon im Mittelalter mit der Ächtung der ersten
Mehrstimmigkeit, das pflanzt sich fort durch die ganze Geschichte).
Mahler soll zu Brahms, beide gingen an einem Bach spazieren, einmal
gesagt haben, als dieser einen ähnlichen Verdacht äußerte:
„Sehen Sie dort, die letzte Welle!“ Die Postmodernen
in der Musik behaupteten dann in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts
definitiv, dass alle Wellen bereits geplätschert hätten
und es nur noch das Zurück gäbe. Warum ist das so? Es
geht wirklich nicht darum, all diejenigen, die sich mit Musik via
Walkman nur die Ohren verschließen wollen (Lachenmann hat
das einmal so bezeichnet), für die zeitgenössische Musik
zu begeistern. Das Argument führen die Quotenjäger an,
die die Vielzahl der Betäubungshörer gegen die Minderheit
der Hörer mit offenen Ohren ausspielen. Aber es gibt in der
Musik offensichtlich noch andere Trägheiten, die den Blick
nach vorn verstellen. Die Musik des alten Beethoven zum Beispiel
galt für viele Zeitgenossen nicht mehr als Musik. Oder ein
Klemperer, der sich durchaus in jungen Jahren der Musik der Wiener
Schule öffnete (und Trägheit des Hörens wird man
ihm gewiss nicht vorwerfen), konnte mit der Musik Weberns nichts
anfangen. Sie überschritt seinen Horizont. Ein Gielen kann
nicht akzeptieren, dass Komponisten über autoritätsfreie
Modelle des Musizierens nachdenken (immerhin gestand er in einer
Diskussion zu dem Thema zu, dass dies andere nach seinem Abtreten
dann probieren sollten). Und so setzt sich die Reihe vermutlich
in alle Ewigkeit fort. Vielleicht liegt es auch daran, dass man
in Musik heimisch werden kann, dass sie nebst aller tiefer, rationaler
und emotionaler Auseinandersetzung auch das Gefühl des Angenehmen
erzeugt (das also, worauf alle Betäubungshörer abfahren).
Hier unterscheidet sich Musik von allen anderen Kunstformen. Sie
kann eben auch Zeit verkürzen oder für andere Hörer
auch die gleiche Zeit zur unerträglichen machen. Hierin ist,
wie Olga Neuwirth einmal sagte, die Musik terroristisch, sie fordert
die Zeit des anderen. Über dieses Phänomen hat die musikalische
Moderne aus ideologischen Gründen zu wenig nachgedacht, denn
das Angenehme widerspricht, gewiss zu Recht, einer emanzipierten
Auffassung von Komposition und wird ohne weiteres der Unterhaltungsindustrie
zugewiesen. Das aber ist eine Unterlassung. Keineswegs soll hier
die Forderung aufgestellt werden, zeitgenössische Musik angenehmer
einzukleiden, das wäre der vollkommen falsche Weg. Aber das
Moment des Bedenkens dieses Faktors darf nicht einfach anderen Zuständigkeiten
überwiesen werden. Emanzipierte, fortschrittliche Musik muss
sich mit allen Wirkungsmechanismen des Erklingens auseinandersetzen,
sonst beschneidet sie sich selbst. Tut sie es, dann mag sich die
Kluft schließen. Die neuen, kühnen und radikalen Klänge
hätten es verdient.