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nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 39
55. Jahrgang | April
Repertoire
Garantiert Echo-frei
Aktuelle Popplatten · Zusammengestellt von Sven Ferchow
Der Echo ist geschafft. Die Kreischbande aus Magdeburg hat abgeräumt,
der unvermeidliche Bob Geldorf bekam den zehnten Preis für
nichts, andere bekamen keinen Preis für viel. Weiden wir unsere
Ohren an etwas unformatierter Musik. Vielleicht auch schon die Echoträger
des kommenden Jahres.
Keine Chance hat die progressive wie aggressive Reggae/Ska/Dancehall
Formation Up, Bustle and Out. Verfuchste Dancebeats aus Jamaika
vermischen sich auf „City Breakers/18 Frames Per Second“
mit HipHop, Urbanstyle und lateinamerikanischen Leih- gaben. Sogar
Nu-Jazz-Bläserfraktionen lassen sich vernehmen. Gewagtes Spiel.
Mehr als tanzbar, deswegen auch hörenswert. Der österreichische
Gitarrist Wolfgang Muthspiel kann mit seinem neuen Album „Bright
Side“ überraschend offen sein. Leicht und perlig tropfen
die Songs von der Muthspiel’schen Qualitätsstufe. Jazz
mit allem. Also Pop, Soul und Groove. Ab und an mal unterbrochen
von musikalischen Finessen, aber sonst wahre Kunst im Dienste des
Hörers. Gelungen. Dealers of Nordic Music – Blueprint
#01 lautet der Titel einer spannenden Kompilation vom Label aus
dem hohen Norden. Künstler wie Jol, Hird, Cloud oder Nils Krogh
sind eventuell bekannt. Vertreten wird von ihnen die hohe Schule
der nordischen Loungemusik in einer extrem breiten Jazzflora. Kühl
und distanziert zwar. Dennoch mit Charme und Eisschirm. Für
exklusive Minuten mit exquisiten Getränken sehr geeignet.
Living Things heißt eine in den Staaten hoch gehandelte
Band. Produziert hat „Ahead of the Lions“ Regler-Gott
Steve Albini (u.a. Nirvana). Barbarisch roh klingt die Platte, Riffs
der Detroit-Szene ergießen sich in Punk- Grunge-Songs, die
durchaus mal in Richtung „The Smiths“ stiften gehen,
um alsbald wieder zwischen Nirvana oder Screeming Trees zu landen.
Höchst beachtlich, weil auch Musik aus politischer Frustration.
Wer schon immer von der ungezügelten wie vermeintlich unkoordinierten
Kraft der Norweger Kaizers Orchestra angetan war, dem ist die Live-CD
„Live At Vega“ (inklusive DVD oder umgekehrt) mehr als
ans Herz zu legen. Norwegisch melancholische Rockmusik im Herzen
der Fans in Kopenhagen. Ein Angriff aufs „independent“-
Herz, der sitzt. Große Gefühle in starker Atmosphäre.
Der italienische Singer/Songwriter Paolo Conte versucht sich ebenfalls
am Modell der gleichzeitig veröffentlichten DVD/CD. „Live
– Arena Di Verona“ ist durchwegs ein emotionaler Genuss.
Intensiv pirscht sich Conte Song für Song an den Zuhörer.
Wobei er ihn von Anfang an bereits gefangen hat. 24 Songs in 100
Minuten machen dieses Doppelalbum besonders und zeigen einen völlig
anderen Songwriter als den ewig gleich gefeierten Prototypen des
amerikanischen und deutschen Feuilletons. Norwegen zum Dritten:
WE und ihr Album „Smugglers“ sind ein rotzfreches Stück
Musik zu Beginn der sonnigen Zeit. Als hätten sie – wie
witzig – ihre dreckigen Riffs aus einer anderen Zeit nach
Europa geschmuggelt, wird hier losgelegt. Der Gesang klingt nach
Rottweiler, das Schlagzeug aus dem Stahlofen importiert und die
Gitarren mit einem Schuss Heroin infiziert. Autor, Sänger und
Songschreiber Jimmy Buffett bietet ein wahres Monster-Boxset an:
zwei CDs mit 31 Songs, eine DVD mit 55 Minuten Länge. Aufgezeichnet
während zweier Konzerte im Fenway Park, Boston. Natürlich
vor ausverkauftem Haus, das Buffetts Countrysongs enthusiastisch
feierte. Ein Klassepaket mit Boogiemusik, Country, Rock’n’Roll
und jeder Menge Spaß. In Sydney nahmen The Church ihr wahrscheinlich
neunzigstes Album auf. Emphatisch, innig, introvertiert, oft fröstelnd
legen sich die Songs um den Hörer. Aber immer wieder mit Refrains
wie Hymnen und Aufschreie. An und mit diesem Album von The Church
hört man deutlich, wo vermeintlich gefeierte Helden wie Coldplay
die Ohren ganz weit aufgesperrt haben. Bei The Church kann man spicken
und Unterschleif en masse fabrizieren. Ihre Noblesse und ihre Souveränität
wird man nie erreichen.
Es wird wohl das letzte Album sein, mit dem der Feuilleton-Liebling
Adam Green so glimpflich davonkommt. Die Streicher hat er hinterm
Ofen wieder hervorgekramt, spannender als auf dem Vorgänger
„Gemstones“ wurden die Songs allerdings nicht. Jovial
und teilweise lax stochert Green zwischen pomadigen Chansons, Pop-gezuckerten
Folkablegern und seinen knapp zweiminütigen Geschichten herum.
Aber, das muss man fast wahnsinnig hinausbrüllen: Er kann das
halt! Die Frage bleibt: Wann kommt der wahre große Wurf von
Adam Green. Das Raketenalbum? Wir warten. Scharrend und bibbernd.
Man kann ihn kritisieren. Aber seine Musik darf man mögen.
Up, Bustle and Out – City Breakers /18 Frames Per Second
(Collision, 24.3.2006)
Wolfgang Muthspiel – Bright Side (Material Records, 14.2.2006)
V.A. – Dealers of Nordic Music – Blueprint #01 (DNM,
29.3.2006)
Living Things – Ahead of the Lions (SonyBMG, 24.3.2006)
Kaizers Orchestra – Live At Vega (Universal, 7.4.2006)
Paolo Conte – Live – Arena Di Verona (Warner, 17.3.2006)
WE – Smugglers (21.4.2006)
Jimmy Buffett – Live at Fenway Park (Mailboat Records,
24.3.2006)
The Church – Uninvited, Like The Clouds (Cooking Vinyl,
14.4.2006)
Adam Green – Jacket Full Of Danger (Sanctuary, 1.3.2006)