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nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 12
55. Jahrgang | April
Semmelmann
Sentimentalitäten
Letztes Wochenende lag ich mal wieder im Wohnzimmer vor dem Plattenregal
und habe meine Langspielplatten durchgeguckt. So eine Sammlung,
völlig egal wie umfangreich sie auch ist, vermittelt dem Durchgucker
nicht nur einen Einblick in das Leben des jeweiligen Sammlers, sondern
irgendwie auch ein Gefühl des Stillstands. Denn der zeitliche
Kontext einer Plattensammlung ist endlich. Zumindest der von meiner,
denn ich gehöre nicht zu den Vinylfetischisten, die nach dem
Aufkommen der CD weiterhin Vinyl kauften, nur um Vinyl zu haben
und als edler Liebhaber und Bewahrer des wahren Musikgenusses zu
gelten.
Guckt man solch eine Sammlung durch, dann fühlt man sich wie
in einer Zeitblase gefangen. Meine Blase beginnt irgendwo in den
frühen 60er- Jahren. Genaugenommen mit der ersten LP der Rolling
Stones. Wobei das ein wesentlich späterer Zukauf in den frühen
70er-Jahren war. Meine „Erste“ war die „Get Yer
Ya-Ya’s out!“. Zu der Zeit besaß ich den Ehrgeiz,
nach und nach sämtliche LPs dieser Musikgruppe zu kaufen. Ich
war Fan damals. Was sollte ich machen? Ich war jung, ich war verrückt,
ich war verliebt. Nach dem Besuch eines Konzertes im Jahre 1976
in der Dortmunder Westfalenhalle, in dessen Verlauf dieser Mick
Jagger auf einem Riesenplastikpimmel he-rumritt, kamen mir dann
doch erhebliche Zweifel an meinem pubertären Fankult und ich
beendete diesen Abschnitt meiner passiven Musiklaufbahn flüchtenden
Fußes. Zumindest als zahlender Konsument dieser Band.
Diejenigen, die mir Anfangs der 70er rosarot als Revoluzzer gedient
hatten, waren inzwischen fast alle tot oder verloren sich in stundenlangen,
dekadenten und bedeutungslosen Instrumentalsoli. Folgerichtig klafft
an dieser Stelle in meiner Sammlung eine Lücke. Aus den „straßenkämpfenden
Männern“ waren bekanntlich satte Millionäre geworden,
die irgendwann im „Motel der Erinnerungen“ saßen
und sich gegenseitig erzählten, was für tolle Hechte sie
doch gewesen sind.
Die Lücke schließt sich erst wieder Ende der 70er-Jahre
mit Clashs „London Calling“, mit den „Bollocks“
der Sex Pistols und mit The Jams „In the City“. Die
Zeitangaben über die Veröffentlichung meiner Platten enden
irgendwo Anfang der 80er. Die Compactdisc hielt Einzug und wurde
uns als der perfekte Tonträger angepriesen.
Mal Hand aufs Herz, werter Leser: Sind Sie jemals mit dem lausigen
Booklet einer CD auf dem Sofa, dem Wohnzimmerboden, dem Bett, in
der Hängematte, mit dem Kopf auf dem Schoße ihres Partners
oder weiß ich wo gelegen und haben es intensiv studiert? Mit
der Juwelierlupe, oder was? Was gab es damals doch für fantastische
LP-Cover, die regelrecht danach kreischten, stundenlang betrachtet
und voller Inbrunst täglich neu interpretiert zu werden, abhängig
davon, welche psychoaktiven Substanzen gerade die Oberhand im Oberstübchen
hatten. Schon mal versucht, die Liner Notes von Zappas „Freak
Out!“ in der CD-Version zu entfernen? Sich mehrfach dabei
erwischt, die CD-Version der „Led Zeppelin III“ untersucht
und doch keine Drehscheibe gefunden zu haben? Oder vergeblich versucht,
die Leute auf der „Sgt. Pepper‘s“ zu erkennen?
Apropos Beatles. Der ganze Stolz meiner Plattensammlung ist die
Tatsache, dass sich trotz intensiver Suche nicht eine einzige LP
der Pilzköpfe findet. Ganz so verrückt war ich dann doch
nicht.