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VdM
nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 26
55. Jahrgang | April
Verband deutscher Musikschulen
Viele Schritte in die Zukunft
Die Lüneburger Musikschule als Projektpartnerin der UNESCO-Schulen
Ostniedersachsens
Als Kathy Kelsh Anfang der 90er-Jahre zum ersten Mal einen Gottesdienst
in der altehrwürdigen St. Johannis Kirche zu Lüneburg
besuchte, wurde sie vom Pastor noch mit der Frage überrascht,
ob sie „als Gastarbeiterin“ in die Stadt gekommen sei.
Inzwischen kennt man die Amerikanerin in Lüneburg, als Musikerin,
als Geigenlehrerin und seit fünf Jahren auch als Orchesterleiterin.
Das von ihr geführte Streichorchester „Strings!“
der Musikschule der Stadt Lüneburg ist eine feste Größe
im Musikleben der Region geworden, ist in den vergangenen Jahren
auch in die USA, nach Frankreich und Spanien gereist, pflegt den
Austausch mit Partner-Musikschulen in diesen Ländern.
Anfang Juli 2005 steht Kathy Kelsh wieder in Lüneburgs berühmtester
Kirche. Ihr Orchester hat eben zum ersten Mal die Kantorei von St.
Johannis begleitet; das dürfen sonst nur professionelle Ensembles.
Nach dem Konzert spricht Heinz-Jürgen Rickert, Landeskoordinator
der UNESCO-Projekt-Schulen in Niedersachsen, sie an. Ob sie „Rhythm
is it!“ kenne? Natürlich! – Sie hatte den Dokumentarfilm
Ende 2004 im Kino gesehen, war fasziniert von der Energie der Bilder
und der Musik, begeistert von den jungen Tänzerinnen und Tänzern,
beeindruckt von der Perfektion der Berliner Philharmoniker bei Strawinskys
„Sacre“. Mit einem Schlagzeuger der Philharmoniker,
der damals dabei war, hatte sie lange über das pädagogische
Konzept diskutiert, über die Arbeit des Choreographen Royston
Maldoom, der für dieses Projekt im Education-Programm der Berliner
Philharmoniker 200 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit
unterschiedlichster tänzerischer Vorbildung zusammengeführt
hatte. Und den im Film dokumentierten Ausspruch von Dirigent Sir
Simon Rattle, „Royston, that’s fucking unbelievable!“,
hatte ihr jüngster Sohn längst zum geflügelten Alltagswort
umfunktioniert. Kein Wunder also, dass Kathy Kelsh spontan zusagt,
als Heinz-Jürgen Rickert sie und die „Strings!“
einlädt, bei einem Tanzperformance-Projekt der ostniedersächsischen
UNESCO-Schulen mitzuwirken. Als Rickert berichtet, die Lüneburgerin
Kerstin Kessel, Balletttänzerin und erfahrene Tanzpädagogin,
übernehme Choreographie und Einstudierung, ist sie endgültig
für das Projekt gewonnen.
Rickerts Konzept ist von „Rhythm is it!“ inspiriert,
Gemeinsamkeiten beschreibt er so: „Schülerinnen und Schüler
werden mit ihnen nur partiell vertrauter Musik konfrontiert und
entdecken dabei ihre eigene Kreativität. Sie lernen, ein Verantwortungsgefühl
jenseits persönlicher Befindlichkeiten zu entwickeln, ein kollektives
Vorhaben durch individuelle Kraftanstrengung zum Erfolg zu führen
und sich dabei auch durch schwierige Phasen im Rahmen der Probenarbeit
nicht entmutigen zu lassen.“
Doch in anderen wichtigen Punkten gibt es Unterschiede, die das
Lüneburger Projekt einzigartig machen: Während Royston
Maldoom unerfahrene Kinder und Teenager mit gut trainierten, mindestens
semiprofessionellen Tanzkompanien kombinieren konnte, sollen in
Lüneburg ausschließlich Schulkinder aus den Klassen 7
bis 10 auf der Bühne stehen, die bis dahin höchstens mal
bei der letzten Klassenfete als Tänzer aufgefallen sind. Inhaltlich
setzt die Lüneburger Performance sich unmittelbar mit der Erlebniswelt
der Jugendlichen auseinander. Dazu Heinz-Jürgen Rickert: „Im
Mittelpunkt stehen die Schülerinnen und Schüler, ihre
Schritte, ihre Bewegungen, ihre Motivationen, ihre Bedürfnisse
und Wege. Es geht um Banales und Besonderes, um Alltag und Aufbruch,
um Lernen und Leben. Teenager tanzen eine Handlung, die sich um
jugendliche Themen rankt wie Aggression, Orientierungslosigkeit,
Gruppenzwänge, aber auch um Freundschaft, Vertrauen, Party
und natürlich um Liebe.“ Titel des Projektes: „Wohin
gehst Du? – Schritte in die Zukunft“. Für die Erzählung
einer konkreten, jugendgemäßen Handlung hat die Choreographin
Kerstin Kessel Szenen entwickelt, deren musikalische Ausgestaltung
sich zunächst als schwierig erwies; geeignete Streichorchestermusik
ließ sich einfach nicht finden. Erst als Kathy Kelsh der Tänzerin
ein Stück aus eigener Feder vorstellte, das sie in den 80er-Jahren
mit der Fusion-Band „Kathy Kelsh Group“ in den Berliner
Clubs gespielt hatte, vorstellte, sprang der Funke über. Nach
und nach schrieb Kelsh nun die Musik für alle acht Szenen,
es entstand eine Musik, die klassische Streicherklänge ebenso
bietet wie HipHop-Grooves und minimalistische Klangschleifen.
Zu ihrer Realisierung werden die „Strings!“ durch eine
kleine Jazz-Combo verstärkt.
Seit Januar 2006 wird nun geprobt, 350 Schülerinnen und Schüler
aus den fünf UNESCO-Projekt-Schulen von Lüneburg bis Lüchow
haben sich beworben, mitmachen können nur 100. Damit die Tänzerinnen
und Tänzer (der Anteil der Jungen liegt bei erstaunlichen 50
Prozent) mit Musik arbeiten können, mussten die „Strings!“
schnell zu ersten Ergebnissen kommen und diese auf CD aufnehmen.
In einer gemeinsamen Projektwoche im Juni werden dann Bühne
und Orchester zusammengeführt. Premiere ist am 1. Juli 2006
im Theater Lüneburg. Weitere Auftrittsorte sollen Hitzacker,
Wolfsburg, Hannover und Bremen sein. Eine Tanzperformance für
Jugendliche, getanzt und gespielt von Jugendlichen – in der
Region Lüneburg steigt die Spannung. (Informationen zum Projekt
findet man im Internet unter www.wohin-gehst-du.net)