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nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 25
55. Jahrgang | April
Verbandspolitik
Musikrat
Wilfried Hiller setzt neue Akzente in Bayern
Seit Ende 2005 ist Wilfried Hiller, Komponist zahlreicher Bühnenwerke
, aber auch vieler Solokonzerte, Chor-, Orchester- und Kammermusikstücke,
Präsident des Bayerischen Musikrates. Nachdem die ersten hundert
Tage in seinem Amt verstrichen sind, stand einem nmz-Gespräch
nichts mehr im Wege.
neue musikzeitung: Kürzlich sagten Sie während
der Radiosendung taktlos auf Bayern2Radio: „Ich bin dabei,
beim Bayerischen Musikrat den Akzent vom Rat auf die Musik zu verlegen.“
Was sind Ihre Pläne?
Wilfried Hiller: Ich habe mich bei Gesprächen
mit Musikern in den letzten Wochen immer wieder geärgert, wenn
ich merkte, dass der Bayerische Musikrat mit seinen vielen Aktivitäten
überhaupt nicht präsent ist. Das muss sich so schnell
wie möglich ändern. Ich will den Bayerischen Musikrat
also ins Gespräch bringen (nicht ins Gerede).
Wilfried
Hiller. Foto: Elisabet Woska
Pläne habe ich einige entwickelt, die in den nächsten
Wochen noch konkretisiert werden sollen. So wird es beispielsweise
am 3. März 2007 im Münchner Prinzregententheater eine
Pocci-Nacht geben, die auf das große Universalgenie aufmerksam
machen soll. Pocci hat seinen 200. Geburtstag und der soll gehörig
gefeiert werden. Bei einer Umfrage in der Poccistraße stellte
sich heraus, dass keiner mit diesem Namen etwas in Verbindung bringen
kann. Pocci ist nicht nur der Erfinder des Kasperl Larifari, er
war ein phänomenaler Zeichner, Bühnenautor und Komponist.
Ich bin in den nächsten Wochen auf Partitursuche, will seine
Werke in der Staatsbibliothek durchforsten und dann guten Musikern
zur Aufführung geben. Ein weiteres Jubiläum steht am 24.
Juni 2007 an, da wird der Bayerische Musikrat 30 Jahre alt und feiert
dieses Jubiläum mit einem großen Festakt im Prinzregententheater.
Da Bayern wunderbare Komponisten hervorgebracht hat, gibt es natürlich
Vokalmusik von Orlando di Lasso, Reger und Orff zu hören, aber
auch die Burleske von Strauss mit der jungen Pianistin Valentina
Babor und der Jungen Münchner Philharmonie unter Mark Mast.
Die griechische Komponistin Eva Sindichakis, die seit vielen Jahren
in München lebt, wird einen Veitstanz für Geige und mehrere
Chöre schreiben.
Auch wenn Strawinsky mal gemeint hat, in Bayern lebten die Neandertaler
der Neuen Musik, so entsteht hier doch schon seit Jahrhunderten
eine ganze Menge an aufregender Musik. Der Geburtstag von Pocci
soll im Übrigen auch Anlass sein, über das Figurentheater
an sich nachzudenken. So gibt es das japanische Bunrakutheater aus
Osaka zu sehen, ein indonesisches Schattentheater mit Gamelanorchester,
das Salzburger Marionettentheater, das Moskauer Obraszowtheater,
das Düsseldorfer Marionettentheater und natürlich das
Münchner Marionettentheater unter Siegfried Böhmke mit
drei Pocci-Inszenierungen und einer Reihe von Opern, die für
das Marionettentheater geradezu ideal eingerichtet worden sind.
Hierin sehe ich übrigens eine wunderbare Möglichkeit,
junge Menschen vorurteilsfrei an die große Oper heranzuführen.
Was die Finanzierung angeht, müssen wir unsere Eingaben beim
Ministerium machen. Ich möchte aber auch kooperieren, etwa
mit der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, dem Kulturkreis
Gasteig e.V. und einer großen Münchner Konzertagentur.
nmz: Wie könnte denn eine frühe musikalische
Bildung heute aussehen?
Hiller: Mein alter Lehrer Carl Orff hat mir einmal
geklagt, dass sein Schulwerk in den deutschsprachigen Ländern
an der Phantasielosigkeit der Lehrer gescheitert sei. Die Lehrer
nehmen normalerweise die Bände des Schulwerks und studieren
es mit den Kindern ein, als wäre es Bach, Beethoven oder Brahms.
Orff ging es aber ausschließlich um musikalisch-szenische
und bewegungsorientierte Modelle. In Japan, China, Afrika und Amerika
funktioniert das wunderbar. Ich habe bei Celestial Harmonies drei
CDs über das Orff-Schulwerk herausgebracht, auf denen ich musikalische
Beispiele gegeben habe, wie man mit den Orff’schen Modellen
umgehen könnte. In zwei Jahren etwa planen wir ein Modell mit
Musikern aus China, Bali und Afrika, um zu zeigen, wie unverkrampft
man mit dem Orff-Schulwerk umzugehen hat.
Vor Jahren habe ich mit Erwin Reutzel vom BR eine Fortführung
des Schulwerks entwickelt. „Klangbaustelle Klimperton“
hieß das Projekt und stieß auf offene Ohren an vielen
Schulen. Wie sagt Orff in Astutuli: „Alles ist Phantasie!“
Fehlt bald das Publikum?
nmz: Deutlich zeichnet sich ein Trend weg von
Klassik, hin zu Pop ab. Gibt es 2050 noch ein Opernpublikum?
Hiller: Wir dürfen uns nicht irre machen
lassen. Ernste Musik war immer eine elitäre Kunst, ich denke
dabei an die Tatsache, dass bei der Uraufführung von Beethovens
3. Symphonie nur etwa 30 Leute vom Adel zugegen waren. Ich selbst
habe überhaupt nichts gegen Rock und Pop. Opernnarren wird
es immer geben, solange unser Erdball sich dreht.
Auch will ich etwas machen, was es bislang meines Wissens noch
nicht gegeben hat: Ich will in Zusammenarbeit mit der Bayerischen
Akademie der Schönen Künste Konzerte für Schwangere
durchführen. Man weiß ja, dass das Gehör bei Embryos
mit 4 ½ Monaten voll ausgebildet ist. Ich habe meine ersten
Erfahrungen auf diesem Gebiet gemacht, als ich in einem Münchner
Studio in den 60er-Jahren Klavierimprovisationen zur Schwangerschaftsgymnastik
gespielt habe. Als während einer Vorstellung meiner baierischen
Mär „Der Goggolori“ eine Lehrerin im 6. Bild eine
Frühgeburt bekam, wurde mir schlagartig bewusst, welche Wirkungen
Musik ausüben kann.
Wenn die Jugendlichen schon nicht in die Konzertsäle für
Klassische Musik gehen wollen, müssen wir (eben) zu ihnen gehen.
Ich selbst war schon vor Jahren als „Komponist zum Anfassen“
auf die Schüler losgelassen worden. Im Bayerischen Rundfunk
arbeiten die beiden Orchester seit langer Zeit an Programmen für
junge Menschen. Ich sehe da nicht so schwarz.
nmz: Welche Wege suchen Sie und der Bayerische
Musikrat zur Politik?
Hiller: Die Erfahrung bei den Antrittsbesuchen
hat gezeigt: Unsere Politiker sind sehr aufgeschlossen, wenn man
sie mit einem guten Programm und unserer Begeisterung hierfür
überzeugen kann. Wir müssen authentisch sein und bleiben.
Unsere Authentizität heißt: Wir sind Musiker, und als
Musiker bilden wir die Dachorganisation Bayerischer Musikrat. Mit
überzeugenden und in sich stimmigen musikbezogenen Projekten
– wir konzipieren derzeit für unser Jubiläumsjahr
2007 ein neues Förderprogramm für hochbegabte junge bayerische
Solisten und Komponisten – lässt sich auch die Politik
überzeugen. Ein weiteres gewichtiges Argument ist die Übernahme
von musikspezifischen Aufgaben, welche politisch für notwendig
und sinnvoll erachtet werden, vom Staat jedoch nur bedingt übernommen
werden können. Das betrifft beispielsweise die Fortbildung
von pädagogisch geeigneten Fachkräften für die Nachmittagsbetreuung,
qualifizierende Angebote für angehende Leiter/-innen im Klassenmusizieren
(zum Beispiel Bläserklassen) oder Fort- und Weiterbildungskurse
für Erzieher/-innen an Kindertagesstätten, damit die im
neuen Bildungs- und Erziehungsplan Bayern niedergelegten Musikangebote
vor Ort auch umgesetzt werden können. Auch hier ist der Bayerische
Musikrat dabei, verschiedene Konzepte zu entwickeln.
nmz: Die öffentlichen Musikschulen in Bayern
sind auf der einen Seite durch die Konkurrenz der Ganztagsschule
bedroht, auf der anderen Seite erschließt sich für sie
ein neues großes Feld der Kooperation mit den allgemein bildenden
Schulen. Was wäre hier die Aufgabe des Musikrates?
Hiller: Ich halte es für problematisch,
hier eine Konkurrenz konstruieren zu wollen. Der Unterricht an den
Sing- und Musikschulen ergänzt den Musikunterricht an den allgemein
bildenden Schulen. Dies war schon immer so, und diese Ergänzungsfunktion
ändert sich auch durch die Ganztagsschule nicht. Zutreffend
jedoch ist, dass sich durch die stärkere Ausdehnung des Nachmittagsunterrichts
das Angebot der Sing- und Musikschulen neu ausrichten wird. Der
Bayerische Musikrat hat daher schon im vergangenen Jahr gemeinsam
mit dem Bayerischen Landessportverband eine Rahmenvereinbarung mit
dem Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus
über „Musik und Sport in der Schule mit Ganztagsangeboten“
geschlossen, wonach die Angebote von Mitgliedern der beiden Dachverbände,
zu denen selbstverständlich auch die Sing- und Musikschulen
gehören, bei der Durchführung von Angeboten im Rahmen
der Ganztagsbetreuung an Schulen vorrangig berücksichtigt werden.
Zugleich wurde ein Kooperationsvertrag für die Schulen und
deren außerschulische Partner entwickelt.
nmz: Sparmaßnahmen verleiten die Kommunen
immer häufiger dazu, ihre öffentlichen Musikschulen in
private Trägerschaften zu überführen. Gehen dabei
nicht wichtige Errungenschaften wie Chancengleichheit und qualifizierte
Ausbildung verloren? Oder erschließen neue Schulmodelle neue
Klientel für die Musik?
Hiller: Zu den Kernelementen des Unterrichts
an Sing- und Musikschulen gehört von je, dass das Erlernen
eines Instrumentes oder die Stimmbildung kein Privileg von „Höheren
Töchtern“ ist, sondern dass ein qualitativ hochwertiges
musikpädagogisches Angebot zu sozial verträglichen Preisen
zur Verfügung steht, wobei selbstverständlich zu würdigen
ist, dass die Eltern mit ihren Gebühren rund 43 Prozent der
Kosten tragen. Von der Rechtsträgerschaft wird dieser grundsätzliche
Bildungsauftrag der Sing- und Musikschulen nicht tangiert. Schon
jetzt sind zahlreiche der im Verband bayerischer Sing- und Musikschulen
zusammengeschlossenen Einrichtungen in der Trägerschaft eines
eingetragenen Vereins und damit in privater Trägerschaft, ohne
dass dies zu Lasten der Chancengleichheit oder der Unterrichtsqualität
gegangen wäre. Was den Einsatz von Honorarkräften anbelangt,
sind wir uns mit dem Bayerischen Staatsministerium, für Wissenschaft,
Forschung und Kunst darüber einig, dass ein Mindestmaß
an festen Arbeitsverhältnissen an einer Sing- und Musikschule
gegeben sein muss.
Das Wahre im Gerücht
nmz: Die Kultur im öffentlich-rechtlichen
Rundfunk steht unter Beschuss, im Fernsehen kommt sie sowieso nicht
vor. Wie sehen Sie die Situation der öffentlich-rechtlichen
Medien im Allgemeinen und speziell in Bayern.
Hiller: Ich war 35 Jahre Musikredakteur beim
BR. Gerüchte haben sich in dieser Zeit früher oder später
immer bewahrheitet. Ich habe nichts gegen eine Jugendwelle einzuwenden,
wenn aber dafür Bayern4 auf UKW geopfert werden soll, werde
ich rabiat. Unsere Klassikhörer sind im Schnitt 65,3 Jahre
alt und werden sich nicht digitale Empfänger zulegen, um Bayern4
hören zu können. So bröckeln wieder Hörer weg
und mein Alptraum wäre, dass man dann wegen Hörermangels
Bayern2 und Bayern4 zusammenlegt.
nmz: Die Hochschulausbildung in Bayern steht
vor gravierenden Umstrukturierungen. Was sind die Positionen des
Bayerischen Musikrats?
Hiller: Die Eingliederung des Richard-Strauss-Konservatoriums
in die Münchner Musikhochschule entspricht einer mehr als zehn
Jahre alten hochschulpolitischen Forderung des Bayerischen Musikrates,
und wir sind sehr froh darüber, dass diese Integration nun
umgesetzt wird. Abzuwarten bleibt, welchen der übrigen Empfehlungen
der Expertenkommission „Musikhochschullandschaft Bayern“
der Freistaat Bayern folgen wird. Dass derzeit in Deutschland mehr
Ausbildungskapazität an den Musikhochschulen zur Verfügung
stehen als tatsächlicher Bedarf an Abgängern, dürfte
unbestritten sein. Eine Reduzierung der Studienplätze ist daher
unausweichlich – es wäre unverantwortlich, einen erheblichen
Teil der jungen Leute für die Arbeitslosigkeit auszubilden.
Zusätzlicher Bedarf an hauptamtlichen Lehrkräften besteht
jedoch aus unserer Sicht an den Universitäten für die
Musiklehrerausbildung.
nmz: Heute grassiert das Wort vom kulturellen
Dialog in unserer Gesellschaft. Welche Rolle kann hier (in Bayern)
die Musik spielen?
Hiller: Bei einer Besprechung im Ministerium
entdeckte ich einen wunderschönen Satz von Theodor Heuss: „Mit
Politik kann man keine Kultur machen, aber vielleicht kann man mit
Kultur Politik machen?“ Das wird mein Motto für die nächsten
Jahre sein.