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nmz-archiv
nmz 2006/04 | Seite 34
55. Jahrgang | April
ver.die
Fachgruppe Musik
Exotik ja, Diskurs nein?
Kolonialisierungstendenzen im Gehirn durch Aneignung musikalischer
Exotismen?
Sprache engt ein. Und die Wahrnehmung und Deutung der Welt in
den ersten Lebensjahren prägt unser Gehirn nachhaltigst. Wir
haben in Schablonen das Denken und in Begriffen das Deuten gelernt.
In unserer Sprache, in unserem Empfinden.
Zweideutigkeiten, Vielschichtig keiten wie die verschiedenen Formen
für „ich“ im Japanischen oder die x-Arten, den
Schnee zu beschreiben in Inuit, gehen uns durch unsere Sprachstruktur
verloren. Wozu auch, meist hat man sich in der Kommunikation auf
den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt. Alles, was nicht in die
Schablonen passt, ist für uns Blödsinn, oder eben bestenfalls
„kreativ“, und dann wird es möglicherweise irgendwann
„Kunst“ und oder Kurt Schwitters Ursonate, ein Stück
Lautmalerei und führt zur Sprache der Musik. – Ein Ausweg?
Gar die Weltmusik mit ihren vielen fremden neuen Sounds?
Sind wir dann wahrnehmungsfähiger, wenn wir uns mit Musik
beschäftigen? Für den einfachen „Verbraucher“
gilt: Weit gefehlt. Neue Wahrnehmungsfelder zu erschließen
durch die Auseinandersetzung mit fremden Musiksprachen, mit einem
anderen Weg des Hörens, das wäre in Zeiten der Globalisierung
durchaus angemessen. Doch die Kunst der kambodschanischen alten
höfischen Tanzmusik oder die hochartifizielle kaiserliche Musik
aus Hue in Vietnam etwa verlangen unser komplettes Umdenken. Dort
hörte man seinerzeit Linien nebeneinander, speiste dazu und
erlebte zeitgleich das Zusammenspiel unterschiedlicher Geschmäcker
im Mund: Das Zusammenspiel zweier oder mehrerer linearer Vorgänge
verzückt. Ob Harmonien dabei „schräg“ klingen,
interessiert nicht, denn die „Harmonie“ hat hier gar
keine Bedeutung im Tanz der Linien.
Ein anderes Beispiel: Trommelkunst im schwarzen Kontinent. Zwei
Trommler aus entgegengesetzten afrikanischen Regionen werden sich
auf Anhieb kaum verstehen können. Ihre Trommelsprachen sind
zu unterschiedlich. Wir aber feiern die „Weltsprache Rhythmus“
und zwingen unsere Kollegen in ein global leicht verständliches
Korsett, nur um gut tanzen zu können. Und wir glauben, wir
erleben afrikanische Musik. Die Trommelkünstler revanchieren
sich mit „einfachen“ Produktionen für das Abendland,
und mit rhythmisch-komplexerer Musik für ihre Landsleute.
Auch die jeweils heimische Popmusikproduktion ist höchst
unterschiedlich und keineswegs westlich. Sie baut auf heimische
Folklore und Kunstmusik auf. Vietnamesische Popmusik, indische,
arabische greift zwar auf unsere abendländische Systematik
als praktikable, universale Bausteine zurück, das System von
Tonika, Subdominante, Dominante, erster, vierter und fünfter
Ton im Bass, das aber sehr frei in der Ausführung und ohne
Zwang. Die heimischen Bausätze, die musikalischen Codes bleiben
erhalten, verständlich, bekannt und angenehm nur denen, die
sie kennen. Unser Musikverständnis dagegen beruht auf der Kadenz
und allen ihren möglichen Umwegen: Selbst „Alle meine
Entchen“ kann keiner auf dem Klavier begleiten, der nicht
die Kadenz kennt.
Erst Arnold Schoenberg wagte es, das Diktat der Kadenz zu durchbrechen,
indem er allen zwölf Tönen der Tonleiter Gleichberechtigung
gab. Lange haben wir das nicht durchgehalten. Dankbar nahm das Publikum
neueste Kompositionen auf, die auch wieder altbekannte Harmonik
wagten, trotz der „Emanzipation der Dissonanz“, der
schrägen Töne jenseits der Bindung bekannter Harmonik.
Wir hören, denken und fühlen in diesem abendländischen
musikalischen Bausatz der Musik, und nur eine Avantgarde leistete
es sich, davon Abstand zu nehmen. Der Musikwissenschaftler Jan Reichow,
lange Jahre am WDR tätig, unterscheidet mehr als vierzehn verschiedene
„Methoden des Hörens“, um diese unterschiedliche
Musiken in dieser Welt überhaupt wahrzunehmen. Eine Methode
des Hörens, die nur einen einzigen Basston kennt, ist zum Beispiel
die indische Kunstmusik. Diese Musik kennt keine Kadenz! Sie baut
langsam die Intervalle über einen Grundton auf, entwickelt
die streng aufgebauten Ragas. Für unsere Ohren ist das gewöhnungsbedürftig.
Der Siegeszug unserer abendländischen Kadenzmusik rund um
den Globus lässt sich schwer überhören, wie man an
der aktuellen Klavierbegeisterung in China sieht oder an den Bemühungen
der Bagdader Lautenschule. Trotz der einzigartig hohen Kunst arabischer
Musik wird hier seit den zwanziger Jahren selbstverständlich
auch europäischer Tonsatz unterrichtet. Oder Tonsatz für
Koreaner, die 2005 an der Musikhochschule in Rostock ein Gesangsstudium
beginnen durften. Abendländische Musik als die über allem
stehende große Kunstmusik in der Welt, ist ein hervorragender,
weltweit gefragter Exportartikel, doch sie ist überschätzt.
Wenn wir aber die Unterschiedlichkeit zu anderen Musikwelten akzeptieren,
lernen wir Arten des Fühlens und des Kommunizierens anderer
Kulturen kennen.
Und wir bemerken, dass unsere klassische Kunstmusik genauso wie
etwa die indische Kunstmusik in ihrer Art einzigartig, großartig
und dennoch auch kulturhistorisch beschränkt ist. Schließlich
fehlt uns seit der Renaissance die elementare Kraft des Rhythmischen
in unserer klassischen Kunstmusik. Die Christianisierung sorgte
für die Unterdrückung des Rhythmischen und tat dies an
anderen Orten der Welt noch bis vor kurzem etwa mit Trommelverboten.
Bei den Inuit Grönlands zum Beispiel, zu Beginn des zwanzigsten
Jahrhunderts: Menschen, die keine Hilfsgüter von den Missionsstationen
bekamen, wenn sie ihre Schamanentrommeln nicht beseitigten und dafür
im Kirchenchor sangen. Im Pazifik das gleiche. Schichten, Überlagerungen,
Querbezüge entstanden durch die Christianisierung des Musiklebens.
Heute gibt es viele junge iranische Musiker, die ihre Wurzeln vor
der Zeit des Islam suchen. Überall auf der Welt entdecken Menschen
tiefere musikalische Schichten, Zusammenhänge, die oft auch
ihre Identität mitdefinieren. Die indianische Spurensuche in
der Musik Mexikos ebenso. – Bausätze aus den Bodenschätzen
des heimischen Musiklebens. Und so auch bei uns: Die alte „Kunst
des Improvisierens“ muss in Instituten für „Alte
Musik“ mühsam neu erlernt werden. Wir haben sie in unserer
eigenen Musikkultur verloren, ebenso wie große Teile der regionalen
Folklore und damit auch Teile unserer Identität.
Um Identität geht es jedoch im globalen Dorf. Um Differenziertheit
- und gegenseitige Wahrnehmung. Zwölf wilde polynesische Männer
tanzen in Germering um einen geschlitzten hohlen Baumstamm und trommeln
darauf ohne Kräfteverzehr die halbe Nacht. Das Publikum staunt.
Ein halbnackter Mann steht an einer langen Röhre und entlockt
ihr dunkle dröhnende Töne, ein australischer Aboriginee
spielt ein Konzert in Hamburg. Eine Frau in Trance produziert in
ihrem Mund Klänge, die uns an Urzustände des Daseins erinnern.
Eine schamanische Sängerin in Sibirien. Was tun mit diesen
Tönen? Wie nehmen wir Weltmusik wahr? Als erlebbar und: vermarktbar.
„Jede Musikkultur ist ein Kosmos“, sagt Jan Reichow.
In den sechziger Jahren begann er, seine Wahrnehmung von Musik der
arabischen Melodik zu widmen, Jahrzehnte später beschäftigte
er sich eingehend mit indischer Musik und füllte damit die
Archive des Westdeutschen Rundfunks. Schätze ruhen dort, die
künftig auch in Indien selbst kostbar sein werden, denn diese
aufgenommene Musik existiert bald nur noch im Archiv des WDR. Ein
lobenswerter Teil des deutschen Musiklebens ist: Wertschätzung.
Aber wie steht‘s um die breite Masse? Ein bisschen Ethno
hier und Exotik da und schon haben wir ihn, den begehrten Geschmack
ferner Welten. Kolonialisierung des Fremden im Gehirn. Finnische
Frauenbands, die mit Kantele Rockmusik machen, das ist ihre gute
Sache. Aber russisch-orthodoxe Choräle mit Techno und den Beatles
gemixt, darf man das? Den kreativen Mixturen ist kein Ende gesetzt.
Früher nannte man es „Crossover“, dann kamen Bands
in „Fusionen“ und heute spricht man von einer „Weltsprache
Musik“. Kann das so falsch sein? Was sollte uns hindern am
Glück des gemeinsamen Tuns, am Glück des Kreuzens, Probierens,
Streitens, und doch Musizierens? Das Motiv bestimmt die Tat. Der
bloße Sound-Effekt bedient einen Markt: Hauptsache, es wird
nicht anstrengend. Exotik ja, Auseinandersetzung nein? Bekannte
Bausteine der Wahrnehmung bitte!
Die Kolonialisierung musikalischer Erscheinung hat eben erst begonnen,
so scheint es. Für Geld lässt sich eben alles haben und
einebnen, auf Linie mischen. Die bekannten Bausätze aber werden
zum Wahrnehmungsfilter aller anderen musikalischen Welten. Damit
stülpen wir unser Denken den anderen über. Weil wir uns
für die Bausätze anderer Kulturen nicht interessieren.
Dabei wäre es in unserem ureigensten Interesse, die emotionalen
und kommunikativen Gesetze anderswo auf der Welt besser zu erkennen.