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Ausgabe 2006/07
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nmz 2006/07 | Seite 16
55. Jahrgang | Jul./Aug.
Forum Musikpädagogik

Auf der Suche nach dem verlorenen Gleichgewicht

Lernziele des Musikunterrichts auf dem Prüfstand

Ziele und Inhalte schulischen Lernens bedürfen von Zeit zu Zeit einer kritischen Überprüfung. Das gilt im Besonderen für die Unterrichtsfächer, die sehr stark dem Einfluss gesellschaftlichen Wandels ausgesetzt sind. Eine sich ihrer Verantwortung bewusste Didaktik wird bei solchen Überprüfungsprozessen darum bemüht sein, die von der Sache her gebotenen Konstanten mit den Variablen gesellschaftlicher Einflussnahme im Gleichgewicht zu halten.

Ein sinnvolles Regulativ für didaktische Bestandsaufnahmen kann die Vorstellung eines pädagogischen Dreiecks sein, dessen Seiten sich auf den zu bildenden jungen Menschen, auf das zu vermittelnde Objekt sowie auf die Erwartungen einer Gesellschaft beziehen, in der der Heranwachsende seinen Platz finden soll. Die Komplexität des Bildungsprozesses wird durch die im Bild des pädagogischen Dreiecks dargestellten, in Wechselbeziehung zueinander stehenden Momente bestimmt.

Leider ist nicht auszuschließen, dass das didaktische Steuerungsinstrument durch Störfaktoren aus dem Gleichgewicht gebracht wird, deren Wurzeln nicht selten ideologisch bedingt sind. Die Geschichte des Unterrichtsfachs Musik dokumentiert dies in eindrucksvoller Weise. Dabei ist nicht allein an die Indoktrination des Faches durch die nationalsozialistische Ideologie zu denken; auch die restaurative Nachkriegsphase konnte sich ideologischer Beeinflussung nicht erwehren, indem sie einem anachronistischen Bildungskonzept folgte, das auf Ideen der Jugendbewegung des Jahrhundertbeginns zurückverwies. Eine zeitgemäße Antwort auf diese rückwärtsgewandte, ideologisch besetzte Position gab die seit den frühen 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts angestrebte Bildungsreform, die sich in den künstlerischen Fächern (Literatur, Musik, Bildende Kunst) zum Ziel setzte, historische Inhalte auf ihre Bedeutsamkeit für die Gegenwart hin zu befragen. Tradition konnte nicht mehr als bloß waltende vermittelt werden; sie sollte fortan als begriffene verständlich gemacht werden. Die gesellschaftskritischen Reflexionen der Frankfurter Schule boten eine Basis für einen gegenüber den restaurativen Tendenzen der Nachkriegszeit sich radikal wandelnden Bildungsbegriff. Unter dem Einfluss dieser kritischen Bildungskonzeption war auch der Musikunterricht an Schulen deutlichem Wandel ausgesetzt. Ins Zentrum der Bildungsbemühungen rückte nunmehr das musikalische Kunstwerk, dessen angemessene Rezeption der geometrische Ort für die Planung des gesamten Aufgabenfeldes wurde. Musik-Praxis (Singen und instrumentales Musizieren) stand im Dienst der Musikrezeption. Die Arbeit des Schulmusikerziehers richtete sich schwerpunktmäßig aus auf das Erklären artifizieller Musik. Unverzichtbar waren dabei die Informationen und Erkenntnisse der Musikwissenschaft als fachwissenschaftlicher Bezugsebene auch des Musikunterrichts.

Indessen wurden sehr bald Vorbehalte gegenüber dieser sehr stark auf den Gegenstand des Faches ausgerichteten Konzeption geäußert: Man vermisste eine angemessene Gewichtung der Subjektseite; die Bedürfnisse der Jugendlichen blieben weitgehend unberücksichtigt; das soziokulturelle Bedingungsfeld werde im Planungs- und Vermittlungsprozess des Musikunterrichts vernachlässigt, wenn nicht gar ignoriert. Der Vorwurf einer abbilddidaktischen Unterrichtsstrategie wurde laut.

Diese Einwände mussten ernst genommen werden. Im Bemühen um eine Ausbalancierung von Objekt- und Subjektseite versuchte man mit dem hermeneutisch begründeten Konzept einer „didaktischen Interpretation“ von Musik, dem Vorwurf einer objektlastigen Kulturvermittlung entgegenzuwirken. Diese Phase der Fachgeschichte kann rückblickend als sehr gewinnbringend für den musikalischen Enkulturationsprozess junger Menschen beurteilt werden, zumal die Orientierungsebene der „didaktischen Interpretation“ die musikalische Hochkultur blieb. Ideologisch motivierte Einflussmomente wirkten auf die Unterrichtskonzeptionen ein, als man begann, den musikalischen Kulturbegriff zu erweitern: Popularmusikalischen Ausdrucksformen billigte man bei der Unterrichtsplanung allmählich den gleichen Rang zu wie den Ausdrucksformen artifizieller Musik. In Analogie zum Literaturunterricht wurden letztere kurzerhand als Ausdrucksformen eines „elaborierten“ Codes gekennzeichnet, der einer ausschließlich „bildungs-bürgerlichen“ Gesellschaftsschicht entspräche. Demgegenüber gelte es, den „restriktiven“ Code der Popularmusik stärker zu berücksichtigen, um den „Bedürfnissen“ der übrigen Gesellschaftsschichten Rechnung zu tragen. Diese ideologische, aus gesellschaftspolitischen Ressentiments erwachsene Argumentation hat die Entwicklung des Schulfaches seit den 70er-Jahren bis heute so sehr bestimmt, dass der Bildungsauftrag, die Erziehung einer an der musikalischen Hochkultur sich orientierenden gesellschaftlichen Trägerschicht, ernsthaft in Frage gestellt ist. Das Gleichgewicht der den Bildungsprozess im Sinne des eingangs erläuterten pädagogischen Dreiecks bestimmenden Momente ist insofern gestört, als die gesellschaftliche Einflussgröße gegenüber dem Subjekt und dem Objekt der ästhetischen Erziehung dominiert. Angestrebt wird nicht mehr die ästhetische Sensibilisierung des jungen Menschen durch die Begegnung mit Inhalten einer autonomen Kunst; statt dessen wird gefördert, dass Jugendliche sich den Distributionsmechanismen der Musikindustrie anpassen, indem sie schwerpunktmäßig popularmusikalische Ausdrucksformen rezipieren.

Der negative Befund der musikdidaktischen Situationsanalyse veranlasst dazu, eine Zukunftsperspektive zu entwerfen, die den Bildungsauftrag des Schulfaches in den Mittelpunkt rückt.

Wie muss Musiklernen geplant werden, um jungen Menschen die Chance zu geben, sich aktiv an der Pflege artifizieller Musik in Chören und Instrumentalensembles beteiligen zu können? Welche Hilfen müssen geboten werden, um ihnen die im Musiktheater und im Konzertsaal präsentierte Musik verständlich zu machen? Welche Maßstäbe für die Wertung von Musik sind zu vermitteln, um ihnen ein Urteil über die Vielfalt musikindustrieller Produkte zu ermöglichen?

Zwei in Wechselbeziehung zu bringende übergeordnete Lernziele sind anzustreben: Förderung einer musikalischen Handlungskompetenz – Förderung einer musikalischen Urteilskompetenz.
Auf welchen Wegen sind diese Ziele zu erreichen?

1. Der Rezeptionslastigkeit des Unterrichts sollte entgegengesteuert werden durch eine erneute Betonung der Musikpraxis, nicht im Sinne eines regredierenden „neomusischen“ Aktionismus, sondern mit dem Ziel der Entwicklung musikalischer Handlungskompetenz als notwendiger Voraussetzung für die Entwicklung musikalischer Urteilskompetenz. Das Musikmachen und das Nachdenken über Musik sind wieder in ein den Bedürfnissen junger Menschen angemessenes Verhältnis zu bringen.

Wie wird zu musikalischem Darstellungsvermögen befähigt? Unverzichtbar ist der Umgang mit einem Zeichensystem, das die selbständige Realisation musikalischer Abläufe garantiert. Die Vokal- und Instrumentalpraxis kann sich auch im allgemein bildenden Unterricht nicht auf das Imitieren von Patterns beschränken; es müssen komplexe Vorgänge realisiert werden können (z.B. Mehrstimmigkeit), deren Faktur am ehesten über die Umsetzung von Notenbildern möglich ist. Die Übertragung von Notenbildern in Klang sollte wieder – vergleichbar mit der Lesekompetenz – den Stellenwert einer Kulturtechnik als Voraussetzung für ein weiterreichendes Musikverständnis gewinnen. – Um auf das angemessene Rezipieren unterschiedlicher musikalischer Idiomatik vorzubereiten, ist eine stilistisch mehrgleisige Musikpraxis notwendig, ohne künstliche Grenzen zwischen den idiomatischen Ebenen zu ziehen. Der methodische Vorgang des Elementarisierens der musikalischen Parameter muss Bezug nehmen auf die Vielfalt musikalischer Ausdrucksformen, unabhängig von der soziokulturellen Vorurteilen verhafteten Unterscheidung zwischen „klassischer“ und „populärer“ Musik.

Ziel des Musiklernens im Dienst eines musikalischen Darstellungsvermögens ist die sichere Ausführung diastematischer, rhythmischer und klanglicher Strukturen.
Mit der Entwicklung reproduktiver Fähigkeiten muss die Entwicklung der musikalischen Imagination einhergehen. Im Lernbereich des musikalischen Darstellungsvermögens bedeutet dies vor allem, den Sinn für die Wirksamkeit von Veränderungen zu wecken auf dem Weg improvisierenden Spiels in gebundener und freier Art. Zu gebundenem Improvisieren wird angeleitet durch das melodische, rhythmische und klangliche Ausgestalten von Modellen unterschiedlicher Idiomatik. Ziel ist die Lösung aus dem Wiederholungszwang der insbesondere die Popularmusik bestimmenden Patterns. So gilt es, zu den rhythmisch-melodischen Stereotypen Varianten zu erfinden, die als Alternativen zu den redundanten Figuren musiziert werden können. Die musikalische Imagination kann gesteigert werden auf dem Weg des freien Improvisierens in den Stilbereichen der Jazz-Musik oder unter Bezugnahme auf zeitgenössische artifizielle Musik. Improvisierendes Spiel entspricht in besonderer Weise den Grundsätzen eines handlungsorientierten Musikunterrichts.

2. Ist durch die Entwicklung des musikalischen Darstellungsvermögens ein gewisser Grad an Handlungskompetenz gesichert, so wird auf diesem Fundament musikalische Urteilskompetenz durch stufenweise Differenzierung das Auffassungsvermögens anzustreben sein. Musikalisches Auffassungsvermögen kann nur entwickelt werden, wenn die Bereitschaft zum aufmerksamen Zuhören geweckt worden ist, eine Einstellung, die bei Jugendlichen zunehmend schwerer zu erwirken ist. Eine Konditionierungshilfe dazu bietet auch wiederum die musikalische Aktion. Der Grad der Aufmerksamkeit kann gesteigert werden, wenn der Zuhörende sich auf musikalische Strukturen richtet, die er zuvor handlungsmäßig verinnerlicht hat (Musizieren von Themen, Motiven etc.). Sodann ist das Empfinden für die Formungsprinzipien der Wiederholung, der Abwandlung, der Steigerung und des Gegensatzes zu wecken. Dabei ist der psychomotorische Nachvollzug ebenso wichtig wie die kognitive Begrifflichkeit. Das Umsetzen musikalischer Abläufe in Bewegung (z.B. als Pantomimik) kann sensibilisierend wirken. Die Verbalisierung sollte sich auf der unteren Schulstufe in Grenzen halten. Zentrales Ziel der hörerzieherischen Bemühungen sollte es sein, Freude am Unerwarteten zu wecken, Abweichungen von vertrauten Modellen zu bemerken und dadurch den Sinn für die Originalität einer Komposition zu entwickeln. Das ästhetische Kriterium der Originalität ist sicherlich nicht der einzige Maßstab für die Urteilsbildung, aber unumstritten eine wesentliche Voraussetzung für die anzustrebende Fähigkeit, sich in der Flut des Angebotenen durch individuelle Geschmacksbildung zu behaupten. – Auf der oberen Schulstufe erhält das musikalische Auffassungsvermögen durch interpretatorische Zugänge eine geistige Dimension. Das im Zuge der Entwicklung der didaktischen Interpretation von Musik erreichte Reflexionsniveau sollte nicht preisgegeben werden; die Preisgabe des gewonnenen Anspruchsniveaus würde den Stellenwert des Faches Musik in der Oberstufe gefährden.

Klaus Velten

 

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