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nmz-archiv
nmz 2006/07 | Seite 16
55. Jahrgang | Jul./Aug.
Gegengift
Heine, Handke und die Folgen
Von „Zivilisationsbrüchen“ ist gern und oft die
Rede. Denn es sind immer die anderen, die sie begehen. Und wenn
man sie beklagt und geißelt, setzt man sich selbst in ein
helleres, reineres Licht. Ist es aber besonders zivilisiert, immer
nur die anderen für böse und sich selbst für gut
zu halten? Geschehen nicht längst – und vielleicht schon
immer – die schrecklichsten Verbrechen aus dem besten Gewissen
heraus? Mussten nicht die Hexen verbrannt werden, um ihre Seele
zu retten? War nicht von alters her der besonders böse, ohne
„falsche“ Hemmungen, der wusste, dass er es mit dem
Bösen zu tun hat?
Das gute Gewissen gibt einem die Lizenz, zu tun, was immer man
will oder für nötig hält – und wenn Blut fließt,
sind auf eine besonders perfide Weise die, die bluten, daran schuld.
So wird sogar noch der Selbstmord der drei Guantanamo-Häftlinge
nicht zum Indiz der Unhaltbarkeit der totalen Entrechtung in einem
„Neverland“ der Geschichte, sondern zum „Beweis“
für die Maßlosigkeit des Terrorismus, der selbst die
eigene Auslöschung als Waffe einsetzt. Wer der kruden Logik
des guten Gewissens und einer hysterischen Selbsterhaltung um jeden
Preis folgt, sieht sich zur Folter ermächtigt, weil doch die
Zukunft voller Verbrechen ist, die „Unschuldige“ treffen
werden: Man muss in Erfahrung bringen, was noch gar nicht geschehen
ist, um es zu verhindern – und der Höllenkreis der auslöschenden
Schmerzen ist höchstens ein Kollateralschaden des Heils, das
man doch anstrebt.
Am Beginn der Zivilisation, im Dekalog, steht das elementare Verbot,
ein falsches Zeugnis abzulegen. Es ist ein kategorischer, kein hypothetischer,
konditionierter Imperativ. Es heißt nicht: Lege kein falsches
Zeugnis ab, es sei denn ... Die modernen Demokratien aber sind längst
zu Virtuosen des Schlupfloch-Denkens geworden. Alles scheint gestattet,
wenn sich nur ein „guter“ Grund für das eigene
Handeln finden lässt. Der „gute“ Grund jedoch hat
seine Wurzel in der eigenen bösen, paranoiden Phantasie. Man
darf sicherheitsverwahren, weil man befürchtet, dass der andere
Böses tun könnte. Man darf foltern, weil der andere möglicherweise
etwas verschweigt. Und man darf lügen, sofern man nur etwas
„Gutes“ im Sinn hat. Der Zweck heiligt die Mittel, das
war schon immer die frohe Botschaft der Jesuiten und Jakobiner jeder
Couleur.
Ist aber wenigstens die Kultur gegen die teuflische Logik des
guten Gewissens gefeit? Keineswegs. Der „diabolos“,
also der, der alles verdreht und durcheinanderwirft, ist längst
zum Maskottchen der engagierten Intellektuellen geworden –
und überhaupt aller guten Menschen, die noch etwas werden wollen.
Die Verleihung des Heine-Preises an Peter Handke wurde zu einem
Pandämonium der politischen „Correctness“ –
was längst zur Bezeichnung für die Mainstream-Meinung
geworden ist, die keine Abweichung duldet. Kennen die, die Handke
(und die Jury, die ihn wählte) so harsch kritisieren, sein
Werk oder zumindest das, was er in den letzten fünfzehn Jahren
über den „Balkan“ geschrieben hat? Wissen sie Bescheid
über die Ursachen und die „Verlaufsformen“ des
Zerfalls dieses Vielvölker-Jugoslawiens? Nein, nicht im mindesten.
Und sie würden es als Unverschämtheit empfinden, dass
man von ihnen ein solches Wissen als Voraussetzung ihres Urteils
fordert. Wer weiß, dass er auf der richtigen, der „guten“
Seite steht, muss sonst nichts wissen.
Selbst Germanistik-Ordinarien fühlen sich befugt, aus Handkes
Werken zu „zitieren“, ohne eine Zeile von ihm gelesen
zu haben. So wird dann Handke zum „Sänger des serbischen
Nationalismus“ – ausgerechnet Handke, der stets voller
Wut und Trauer über diese dummen, lügnerischen, berechnenden
Nationalismen war. Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen? Warum
denn nicht, wenn es der guten Sache dient. Mittlerweile ist das
Klima der Verdächtigung und der Vorsicht, die sie im Gefolge
hat, schon so weit gediehen, dass selbst die, die Handke verteidigen,
es nur noch auf eine lügnerische und kriecherische Weise tun
(können). Man beansprucht dann für den „großen“
Autor, gleichsam als Voraussetzung seiner Kreativität, das
Recht, „groß“ zu irren. Oder man gesteht ihm,
als handele es sich dabei um eine lebensgeschichtliche Beschädigung,
eine Empfindlichkeit gegen die handelsübliche Presse-Sprache
zu. Das aber, was doch der Mindeststandard jeder Form von Öffentlichkeit
und die conditio sine qua non jeden Diskurses sein sollte, nämlich
die Argumente zu prüfen, das wird ihm auch von seinen „Freunden“
verweigert. Die Zivilcourage der „Anständigen“
zeigt sich darin, dass sie keine abweichenden Meinungen mehr dulden.
Die Radikalität des guten Gewissens hat zur Folge, dass sie
jede Form von Dissidenz für ein Verbrechen hält. Wie verkommen
muss eine „Kultur“ sein, in der die simple Feststellung
unmöglich geworden ist, dass Handke nicht ein „spinnerter“
Dichter ist, dem man manches nachsehen muss, sondern dass seine
Darstellung der jugoslawischen Zerfallskriege im großen und
ganzen – und vor allem in den vielen Details! – schlicht
zutreffend ist?! Musste er aber partout zur Beerdigung Milosevics
fahren, „durfte“ er es? Auch da war Handke hellhöriger,
empfindlicher als der große Rest der Öffentlichkeit.
Er verteidigte ein humanes „Essential“, eine unaufgebbare
Restanständigkeit gegen die, die selbst dem toten Milosevic
seine Ruhe nicht gönnten und ihn am liebsten nur verscharrt
hätten. Waren nicht selbst die „primitiven“ Völker
schon so weit, dem Leichnam des Feindes seine letzte Ehre nicht
zu verweigern?