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nmz-archiv
nmz 2006/07 | Seite 15
55. Jahrgang | Jul./Aug.
Kulturpolitik
Zwölf Thesen zum interkulturellen Dialog
2. Berliner Appell – Wer das Eigene nicht kennt, kann das
Andere nicht erkennen
Bundespräsident Horst Köhler wird am 10. Juli im Schloss
Bellevue den 2. Berliner Appell entgegennehmen. Präsident des
Deutschen Musikrates Martin Maria Krüger und der Generalsekretär
Christian Höppner werden dem Bundespräsidenten die Ziele,
die sie mit dem Appell verfolgen, darlegen.
Vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen
im „Kampf der Kulturen“ und in Auswertung der Fachtagung
des Deutschen Musikrates zum Thema „Musikland Deutschland
– wie viel kulturellen Dialog wollen wir?“, hat der
Deutsche Musikrat zwölf Thesen formuliert: „Kulturelle
Identität stärken und interkulturellen Dialog ermöglichen“
ist der Grundtenor des 2. Berliner Appells, der als Handlungsempfehlung
an die Politik und die Zivilgesellschaft gerichtet ist. Mit dem
Appell liegt zum ersten Mal ein Papier vor, das die kulturelle Bildung
und den interkulturellen Dialog in eine nicht auflösbare Wechselbeziehung
stellt.
Kulturelle Identität und interkultureller Dialog bedingen
einander
Deutschland steht, wie seine europäischen Nachbarn, vor großen
Herausforderungen in der Gestaltung des Dialoges der Kulturen. Migration
und demographische Entwicklung belegen seit längerem die Notwendigkeit,
stärker als bisher in die Verbesserung der Rahmenbedingungen
kultureller Identitätsbildung und des interkulturellen Dialoges
zu investieren. Grundlage dafür sind Bildung und Kultur. Jeder
Bürgerin und jedem Bürger unseres Landes muss Chancengleichheit
beim Zugang zu einem qualifizierten und vielfältigen Bildungs-
und Kulturangebot ermöglicht werden. Der Dialog der Kulturen
ist ohne die jeweils eigene selbstbewusste Standortbestimmung nicht
möglich. Die Musik ist in ihren vielfältigen Ausdrucksformen
als barrierefreies Medium kultureller Identitätsfindung und
des interkulturellen Dialoges in besonderer Weise dafür prädestiniert.
Der Deutsche Musikrat sieht sich in der gesellschaftlichen Mitverantwortung,
das Bewusstsein für die Stärkung kultureller Identitätsfindung
und Öffnung interkultureller Dialoge zu befördern. In
Auswertung der Fachtagung des Deutschen Musikrates vom November
2005 zum Thema „Musikland Deutschland – wie viel kulturellen
Dialog wollen wir?“, vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftspolitischen
Auseinandersetzungen im „Kampf der Kulturen“ und in
Sorge um die gesamtgesellschaftliche Entwicklung appelliert der
Deutsche Musikrat an die Politik und die Zivilgesellschaft, sich
für Toleranz und Verständigung einzusetzen und dies durch
die Unterstützung der folgenden Positionen im Bereich der Musik
zu konkretisieren:
Die Wahrnehmung unterschiedlicher Identitäten kann nur über
eine Position des sich „selbst bewusst sein“ gelingen
– denn wer das Eigene nicht kennt, kann das Andere nicht erkennen,
geschweige denn schätzen lernen. Die Neugier und Offenheit
jedes neugeborenen Kindes sind Chance und Verantwortung zugleich,
dieses Selbstbewusstsein im Sinne einer breit angelegten und qualifizierten
musikalischen Bildung anzulegen und damit die Voraussetzungen für
den Dialog mit anderen Kulturen zu schaffen.
2. Barrierefreier Zugang zur musikalischen Bildung
Jedes Kind muss, unabhängig von seiner sozialen und ethnischen
Herkunft, die Chance auf ein qualifiziertes und breit angelegtes
Angebot musikalischer Bildung erhalten, das die Musik anderer Ethnien
einschließt.
3. Musikalische Ausbildung und interkulturelle
Kompetenz für Erzieherinnen und Erzieher
Die musikalische Früherziehung in Krippe, Kindergarten und
Hort muss Bestandteil einer umfassenden Ausbildung der Erzieherinnen
und Erzieher sein. Dies schließt auch die Qualifizierung im
Umgang mit nichteuropäischer Musik ein.
4. Zukunft Schule: als Ort kultureller Identitätsbildung
und interkultureller Begegnung
Musikalische Bildung muss in der Schule wieder selbstverständlicher
Teil der Bildung werden. Dazu bedarf es eines qualifizierten, breit
angelegten und durchgängigen Musikunterrichtes in allen Schularten
und allen Jahrgangsstufen, der die Migrantenkulturen mit einbezieht.
5. Das Laienmusizieren muss als Fundament kultureller
Identitätsbildung und Plattform interkultureller Dialoge gestärkt
und ausgebaut werden
Das Laienmusizieren muss in viel stärkerem Maße als
bisher ermöglicht und befördert werden, weil es für
alle Bevölkerungsschichten ein wesentlicher Ort kultureller
Identitätsbildung sein kann und ein bedeutender Faktor des
kulturellen Lebens ist. Die Grundlage dafür ist das Bewusstsein
für den Wert der Kreativität und die Anerkennung bürgerschaftlichen
Engagements. Das Laienmusizieren ist in seiner breiten Verwurzelung
in allen Bevölkerungsschichten und Altersstufen der erste Ort
für interkulturelle Begegnungen.
6. Die Verbände und Organisationen der
Zivilgesellschaft müssen ihrer Verantwortung für den interkulturellen
Dialog stärker gerecht werden
Die Keimzelle jeden interkulturellen Dialoges ist die Kommunikation
zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft. Dazu bedarf
es der Bereitschaft und der Möglichkeit zur Begegnung. Die
Verbände und Organisationen der Zivilgesellschaft sind in viel
stärkerem Maße als bisher gefordert, sich durch ihre
Arbeit und ihre Maßnahmen ihrer Multiplikatorenrolle für
den interkulturellen Dialog bewusst zu werden.
Der Deutsche Musikrat wird eine Task Force einsetzen, die seine
musikpolitische Arbeit und seine Projekte im Hinblick auf einen
interkulturellen Kompetenzzuwachs evaluieren wird.
7. Die Kulturträger sowie die Einrichtungen
der Aus-, Fort- und Weiterbildung sind zum Ausbau ihrer interkulturellen
Handlungsfelder aufgerufen
Schulen, Musikschulen, Musikvereine, Hochschulen, Musikakademien,
Volkshochschulen, Orchester, Musiktheater und viele andere Einrichtungen
aus diesen Bereichen sollten ihre Angebote auf den Ausbau möglicher
Handlungsfelder zur Beförderung des interkulturellen Dialoges
überprüfen. Dabei geht es um langfristig wirkende Maßnahmen
und nicht um die mediale Befriedigung eventartiger Kurzschlüsse,
die im Sinne einer Nachhaltigkeit eher kontraproduktiv wirken, aber
leider in den Förderpraxen von der öffentlichen Hand und
privaten Geldgebern gerne gesehen sind.
8. Die Medien müssen ihrer Multiplikatorenrolle
für Bildung, Kultur und interkulturellen Dialog viel intensiver
gerecht werden
9. Sprachkompetenz: Voraussetzung für Dialog
Der Kompetenzerwerb zur Beherrschung der deutschen Sprache in
allen Ausbildungsstufen ist auch und gerade in der Musik Voraussetzung
für Verstehen und Verständigung.
10. Die Auswärtige Kulturpolitik ist zentraler
Mittler für den interkulturellen Dialog
Die Auswärtige Kulturpolitik muss wieder im Sinne einer dritten
Säule der Außenpolitik gestärkt werden und den interkulturellen
Dialog vor allem über Begegnungsprogramme auf der Laienmusikebene
befördern.
Die jungen Musikerinnen und Musiker sind gerade bei nachhaltig angelegten
Begegnungsprogrammen ausgezeichnete Multiplikatoren für Toleranz,
Weltoffenheit und Verständigung.
11. UNESCO-Konvention zur Kulturellen Vielfalt
schnell ratifizieren
Kanada hat als erstes Land die UNESCO-Konvention vom 20.10.2005
ratifiziert. Es wäre ein gutes Zeichen nach außen und
innen, wenn Deutschland diese Konvention rasch ratifizieren würde.
Die UNESCO-Konvention setzt Standards zum Schutz kultureller Vielfalt
und schafft damit auf dem Weg zu einem völkerrechtlichen Instrumentarium
Verbindlichkeiten für Bildung, Kultur und die Auswärtige
Kulturpolitik. Zudem kann sie Schutz vor den fortschreitenden Liberalisierungstendenzen
der Märkte liefern.
12. Die Politik muss in die Entstehungsorte
kultureller Identität und interkultureller Dialoge investieren
Alle politischen Entscheidungsträger müssen ihre Prioritätensetzung
in der Bildungs-, Kultur-, Sozial- und Wirtschaftspolitik zu Gunsten
der Schaffung bzw. Beförderung von Orten der Identitätsbildung
und der interkulturellen Begegnung neu ausrichten. Den absehbaren
Folgen einer fortgesetzten Abkapselung von Teilkulturen kann nur
durch das Verständnis von Investitionen in beiden Bereichen
begegnet werden.
Berlin, 19. April 2006
Eine Auswahl der Erstunterzeichner des 2. Berliner Appells:
Dr. Walter Scheel (Bundespräsident a.D.), Dr. Richard von
Weizsäcker (Bundespräsident a.D.) Frank Bsirske (Bundesvorsitzender
der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaften), Prof. Wolfgang
Gönnenwein (Staatsminister a.D.), Katrin Göring-Eckardt,
MdB (Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages; Kulturpolitische
Sprecherin der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen), Monika
Griefahn, MdB (Kultur- und Medienpolitische Sprecherin der SPD),
Dr. Lukrezia Jochimsen, MdB (Kulturpolitische Sprecherin der Linksfraktion),
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin (Staatsminister für Kultur
und Medien a.D.), Hans-Joachim Otto, MdB (Vorsitzender des Ausschusses
für Kultur und Medien), Cem Özdemir (Mitglied des europäischen
Parlaments für die Partei Die Grünen), Isabel Pfeiffer-Pönsgen
(Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder), Dr.
Henning Scherf (Bürgermeister des Senats der Freien und Hansestadt
Bremen a.D.; Präsident des Deutschen Chorverbandes), Renate
Schmidt, MdB (Bundesministerin a.D.), Michael Sommer (Vorsitzender
des Deutschen Gewerkschaftsbundes), Dr. h.c. Wolfgang Thierse,
MdB (Vizepräsident des Deutschen Bundestages), Christoph
Waitz, MdB (Kultur- und Medienpolitischer Sprecher der FDP), Klaus
Wowereit (Der Regierende Bürgermeister von Berlin), Christian
Wulff (Niedersächsischer Ministerpräsident), Prof. Dr.
Richard Jakoby (Ehrenpräsident des Deutschen Musikrates),
Martin Maria Krüger (Präsident des Deutschen Musikrates,
für das Präsidium und Mitglieder des Deutschen Musikrates)
Prof. Gerd Albrecht (Dirigent und Initiator des Klingenden Museums),
Alfred Brendel (Pianist und Schriftsteller), Prof. Dr. Patrick
Dinslage (Vorsitzender der Rektorenkonferenz der Musikhochschulen
in der BRD), Prof. Dr. h.c. Brigitte Fassbaender (Intendantin
des Tiroler Landestheaters Innsbruck), Prof. Dr. Dietrich Fischer-Dieskau
(Sänger), Prof. Dr. Jürgen Flimm (Intendant der Ruhr
Triennale), Dr. Michel Friedman (Rechtsanwalt; Moderator), Prof.
Dr. Max Fuchs (Vorsitzender des Deutschen Kulturrates und Vorsitzender
der Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung e.V.),
Barbara Hendricks (Sängerin), Walter Hirche (Präsident
der Deutschen UNESCO-Kommission), Prof. Siegfried Jerusalem (Sänger
und Rektor der Hochschule für Musik Nürnberg-Augsburg),
Prof. Dr. Mauricio Kagel (Komponist und Dozent), Gidon Kremer
(Geiger und Dirigent), Prof. Sabine Meyer (Klarinettistin und
Hochschulprofessorin), Prof. Dr. Franz Müller-Heuser (Sänger),
Prof. Thomas Quasthoff (Sänger und Hochschulprofessor), Prof.
Dr. Peter Raue (Rechtsanwalt und Vorsitzender des Vereins der
Freunde der Nationalgalerie), Peter Ruzicka (Komponist, Dirigent
und Intendant der Salzburger Festspiele), Prof. Dr. Joachim Sartorius
(Intendant der Berliner Festspiele), Michael Schindhelm (Generaldirektor
der Stiftung Oper in Berlin), Prof. Klaus Staeck (Präsident
der Akademie der Künste), Rolf Zuckowski (Musiker und Komponist)
Präsidenten und Rektoren von zahlreichen Hochschulen und
Universitäten in Deutschland Hans-Jürgen Brackmann (Generalsekretär
der Stiftung der Deutschen Wirtschaft), Peter Dussmann (Vorsitzender
des Aufsichtsrates der Dussmann AG & Co. KGaA), Dr. Wilhelm
Krull (Generalsekretär der Volkswagen-Stiftung), Dr. Otto
Graf Lambsdorff (Bundesminister a.D.; Vorsitzender der Friedrich-Neumann-Stiftung
Potsdam), Prof. Dr. h.c. Klaus-Dieter Lehmann (Präsident
der Stiftung Preußischer Kulturbesitz), Liz Mohn (Stellvertretende
Vorsitzende der Bertelsmann Stiftung), Eske Nannen (Geschäftsführerin
Stiftung Henri und Eske Nannen), Dr. Monika Wulf-Mathies (Ehemalige
EU-Kommissarin; Vorsitzende des Kuratoriums der Beethoven-Stiftung
für Kunst und Kultur der Bundesstadt Bonn), Dr. h.c. mult.
Hans Zehetmair (Staatsminister a.D., Vorsitzender der Hanns-Seidel-Stiftung
München)
Herbert Fandel (FIFA-Schiedsrichter und Leiter der Kreismusikschule
Bitburg-Prüm), Peter Fischer (Präsident von Eintracht
Frankfurt), Götz-Werner von Fromberg (Vorstandsvorsitzender
Hannover 96 e.V.), Klaus Fuchs – Geschäftsführer
des VFL Wolfsburg), Hans-Hermann Schwick (Präsident des DSC
Arminia) Bielefeld)