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nmz-archiv
nmz 2006/07 | Seite 7
55. Jahrgang | Jul./Aug.
Magazin
Wandlungen und Beständigkeit im Komponieren
Zum 80. Geburtstag Hans Werner Henzes · Von Hans-Klaus
Jungheinrich
Am 1. Juli 2006 feierte Hans Werner Henze seinen 80. Geburtstag.
Mit zahlreichen Aufführungen seiner Werke in Konzerten und
Opern huldigt die Musikwelt einem der bedeutendsten Komponisten
der Gegenwart. Eine besondere Hommage an Hans Werner Henze fand
in Rom statt: Die Accademia Nazionale di Santa Cecilia, die Ernst
von Siemens Musikstiftung und das Goethe-Institut Rom arrangierten
ein Festkonzert mit dem Orchester der Accademia im Auditorium Parco
della Musica, das unter der Leitung von Pascal Rophé Henzes
„Sieben Boleros für großes Orchester“ spielte.
Zuvor kamen drei jüngere Komponisten und Schüler Henzes
mit Uraufführungen zu Wort und Ton: Im Auftrag der Siemens
Musikstiftung komponierten Mark Anthony Turnage „Lullaby for
Hans“, Jörg Widmann „Acht Miniaturen für Klarinette
und Streichorchester“ und Francesco Antonioni eine „Giga“.
Vor dem Konzert wurde ein eigens für diese Gelegenheit gefilmtes
Interview mit Hans Werner Henze gezeigt, in dem der Komponist das
anwesende Publikum grüßte.
Hans
Werner Henze. Foto: Charlotte Oswald
Kürzlich veranstaltete die Bayerische Akademie der Künste
zu Ehren des 80. Geburtstags von Hans Werner Henze ein Symposium,
in dem es auch um die Frage ging, ob es so etwas gäbe wie ein
ausgeprägtes Henze’sches Spät- oder Alters-Oeuvre.
Sie wurde kontrovers beantwortet, und eine der diskutierten Thesen
besagte, Henzes Schaffen weise so beträchtliche Unterschiede
der tonsprachlichen Dringlichkeit auf, dass man schon relativ früh
auch von „Vermächtnis“-Werken sprechen könne.
Darunter würden die drei Streichquartette des 50-Jährigen
zählen, auch die 7. und die 9. Symphonie, das instrumentale
Requiem und natürlich die 2003 in Salzburg uraufgeführte
Märchenoper „L’Upupa“. Andererseits schrieb
auch der alte Henze immer wieder gerne Parerga, die wie Lockerungs-
oder Fingerübungen anmuten, bei genauerem Blick aber zweifellos
alle Merkmale von Altersreife und Meisterschaft offenbaren. Übrigens
arbeitet Henze jetzt wieder an einem Opernprojekt (der zweiaktigen
„Phädra“, einem bereits vom früheren Librettisten
Hans-Ulrich Treichel ventilierten Sujet), bei dem er sich nach fertig
gestelltem ersten Akt wegen schwerer Krankheit im vergangenen Winter
unterbrechen musste.
Alterswerk hin und her, Henzes Schaffen zeigt sich nach so vielen
produktiven Jahrzehnten und Perioden ebenso vielgestaltig wie in
seiner Motivation komplex. Am Anfang stand – wie bei allen
kraftvoll Begabten – der pure Ehrgeiz. Prekär war die
Ausgangssituation jedoch deshalb, weil die Elterngeneration, der
Henze „es zeigen“ wollte, mit dem Nationalsozialismus
identifiziert werden musste. Auch die Repräsentanten der deutschen
Nachkriegsmusik waren vielfach „gewendete“ Nazis wie
der rührige SWF-Musikchef und Avantgarde-Apologet Heinrich
Strobel, aber auch der Komponist Wolfgang Fortner, einer der wichtigen
Lehrer Henzes. Zu ungemischter Verehrung konnte es schwerlich kommen.
Henze suchte Erfolg bei einem Establishment, das er gleichwohl auch
ablehnte. Dem Milieu der Adenauerzeit entfloh er, indem er schon
seit den 50er-Jahren die meiste Zeit in Italien lebte. Trotz zunehmender
internationaler Reputation blieb er aber doch mental eng verbunden
mit Deutschland, dessen institutionelle Kapazitäten ihm selbstverständlich
auch die lukrativsten Aufführungsmodalitäten verschafften.
Die ambivalente Herzens- und Schmerzenssache Deutschland bekam
für Henze eine neue Virulenz durch die Aktivitäten der
1968er-Bewegung, die bei ihm einen Politisierungsschub initiierte.
In diesen Jahren radikalisierte sich auch Henzes kompositorische
Poetik und holte gleichsam das zuvor ausgesparte Avantgarde-Pensum
nach; am auffälligsten war die produktive Aneignung und Abwandlung
von Modellen des „instrumentalen Theaters“ à
la Kagel, Schnebel und Ligeti. Neben dem formal-experimentellen
Aspekt behielt die Vermittlung von Inhalten bei Henze ein großes
Gewicht: Musik als Ausdruck und Transportmittel von „Aufklärung“,
auch als begriffslos-begreifliche Erkenntnis des für politisch
richtig Erachteten – und das war für Henze in dieser
Phase zweifellos ein undogmatisch verstandener Marxismus. Die Hoffnung
auf dessen Rezepturen mag sich später auch bei Henze abgeschwächt
haben, aber ein profund „linkes“ Selbstverständnis
kam ihm niemals abhanden.
Obwohl in allen erdenklichen musikalischen Gattungen und Genres
zuhause, ist Henze doch mit allen Fibern Theatermusiker, mithin
eine Spielernatur, die den Umgang mit Wahrheit nicht abtrennt vom
Wunschpotential des schönen Scheins, vom Rätselcharakter
und der Vieldeutigkeit der chiffrierenden und camouflierenden künstlerischen
Erscheinung. Kunst demnach nicht als frontale Botschaft, Parole
oder Tendenz, vielmehr eher als ein Genuss bereitender Attraktor
mit Erkenntnis stiftenden Konterbanden. In diesem Sinne lässt
sich auch sein späteres Oeuvre wahrnehmen, so dass die vermeintliche
Putzigkeit der Tieroper „The English Cat“ gegenüber
dem vorangegangenen harten Antikriegsstück „We Come to
the River“ keinen Bruch bedeutet, sondern ästhetische
Verschlüsselung unvermindert kritischer Gehalte. Dass „political
correctness“ angesichts der verstörenden Interessantheit
eines Stoffes verblasst, stellte Henze klar mit der Wahl einer Mishima-Erzählung
für seine Oper „Das verratene Meer“, eines seiner
Hauptwerke aus den 90er-Jahren.
Bemerkenswert sind nicht nur die Wandlungen und die Konsistenz
in Henzes Schaffensprozess, sondern auch die Volten der Henze-Rezeption
der vergangenen 60 Jahre. Zunächst überwog (ein bisschen
fälschlich) der Eindruck eines eher dem „großen“
Musikbetrieb sich anschmiegenden als dem modernen Rigorismus verbundenen
Tonsetzers.
Im Darmstadt der schulbildenden Präzeptoren Nono, Boulez und
Stockhausen war Henze der ungeliebte Außenseiter, scheinbar
ein Mann von gestern. Als Kunst- und Kampfgenosse der Studentenbewegung
(mit allerdings teilweise desillusionierter Kuba-Erfahrung) geriet
Henze fast plötzlich zur Schlüsselfigur einer zeitgemäßen
„politischen Ästhetik“, einer Art Quadratur des
Kreises auf der Spur. Nach avantgardistischen und politischen Ernüchterungen
wurde Henze schließlich für die nach 1950 geborenen Musiker
zu einem mächtigen Markierungspunkt, der wegweisend fungierte
bei dem unumgänglichen Bestreben, linearem Fortschrittsdenken
abzuschwören und den Zukunftskräften „unerledigter“
Traditionselemente zu vertrauen. Der Dissens zu dem unbeirrten Avantgardisten
Helmut Lachenmann zeigte zumindest, dass Henzes bewegliche Ästhetik
eine Situation aufzubrechen vermochte, die sich an endzeitlichen
Dilemmata festzufressen drohte.
Deutlich ist, wie sehr Henze auch der Zeitgenosse der Serialisten
war, wie schwer es ihm fiel, Freiheit für sich und seine künstlerische
Sache zu behaupten. Ich erinnere mich daran, wie wir gemeinsam in
seinem Haus in Marino in den 70er- Jahren eine Aufnahme der „Four
Sea Interludes“ aus Brittens „Peter Grimes“ hörten.
Unbedingt ein Meisterwerk. Aber Henze stellte dazu – mit einem
merklichen Unterton von Bekümmerung in der Frageform –
nur fest: „Kann man denn heute noch so komponieren?“
– Die Standards der Nachkriegs-Atonalität verinnerlichte
Henze zur Gänze, auch wenn er sie gelegentlich (wie Alban Berg,
wie latent sogar Schönberg) auch suspendierte – mit am
anrührendsten etwa in dem Schlusssong der Rachel aus dem operettenhaften
Stück „La Cubana“, hier übrigens im Kontext
einer konsequent „instrumentalisierten“ Theaterkonzeption,
die den gesamten Instrumentalanteil als Bühnenmusik figuriert.
In diesem Song manifestiert sich Henze als überwältigender
Melodiker, Meilen galaxis-voraus im Vergleich zu Elaboraten eines
Andrew Lloyd Webber. Melodie, eine in der „großen“
Musik des 20. Jahrhunderts mit guten (besser: wahrhaftigen) Gründen
tabuisierte Größe. Auch wenn Henze nur manchmal und eher
zaghaft an sie erinnert, scheint er sie doch tendenziell weiterbewahrt
zu haben: als ein Freiheitszeichen. Für, hoffentlich, weitere
große Freiheiten.