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nmz-archiv
nmz 2006/07 | Seite 12
55. Jahrgang | Jul./Aug.
Nachschlag
Ertaubt
Es herrscht eine merkwürdige Stimmung im Land. Man will nichts
mehr hören, denn sonst geriete man in Wut und Zorn. Da wurde
die alte Regierung vorfristig abgelöst und die große
Koalition versprach Rettung auf allen Ebenen. Und jetzt wird wieder
geflickt und Löcher werden gestopft. Alles kostet Geld, meistens
mehr, als da ist. Die Gesundheitsreform krankt am Milliardendefizit,
die EU-Osterweiterung lässt Gelder in solchen Mengen in Kanälen
verschwinden, dass diese doch längst einmal verstopft sein
müssten.
Die Mehrwertsteuer-Erhöhung versucht das zu deckeln, unterm
Strich wird herauskommen, dass es nicht genug ist, wie schon die
Rekord-Erhöhung der Aufnahme von neuen Staatsschulden andeutet.
Kaum ist eine notdürftige Begründung (alles natürlich
im höheren Sinne des Gesamtwohles) abgegeben, tut sich schon
wieder eine neue, horrible Geldkluft auf. Nein, nein, nein! Das
Heilmittel Hartz IV wird zum Geldschlingmittel und selbst die amtliche
Ermordung des Bären Bruno hat mindestens 100.000 Euro gekostet
(wofür man auf dem Großmarkt gewiss 10.000 Kilo Schaffleisch
bekommen hätte, was ihm eine Rentenversicherung ins hohe Bärenalter
gewesen wäre). Nein, man mag das einfach nicht mehr hören.
Da kam die Fußball-WM gerade recht, und ihr kaum zu begreifender
Boom beruht gewiss nicht zuletzt darauf, dass man alles zujubeln,
zufeiern, zubrüllen kann. Sie ist der Walkman des ganzen Volkes,
das sich damit die Ohren zuhält. Oder der über den Kopf
zu ziehende Schallschützer wie in der Werbung, der das Problem
einer über die schäbigen Tapeten nörgelnden Ehefrau
auf seine Weise löst. Nichts mehr hören wollen, das ist
freilich auch ein musikalisches Problem.
Und fast scheint es so, als würden auch die meisten Komponisten
hierzulande den Unmut der Konsumenten beherzigen. Das Titelbild
der letzten nmz, auf dem drei Komponisten, über ein Notenpult
ohne Noten gebeugt, in bedeutsam heftigen Disput verfallen, ist
ein Indiz (dort natürlich ironisch gemeint).
Aber insgesamt ist, von einigen gewichtigen Ausnahmen abgesehen,
eine Nivellierung dessen zu beobachten, was derzeit musikalisch
abgehandelt wird. Münchener Biennale, Witten oder Ultraschall,
überall begegnete man Werken, von denen man nicht so recht
wusste, warum sie geschrieben wurden, beziehungsweise was den Entschluss
ihrer Unterlassung bremste (der Auftrag und sein Geld?). Manchmal
hat man den Eindruck, als würde in den Katalog eines Reiseunternehmens
geguckt, wo man sich nach vielem Hin und Her für das All-Inclusive-Angebot
eines Fünfsternehotels bei Antalya anstatt an der Costa Brava
oder in der Karibik entscheidet. Mit der gewichtig gemeinten Begründung:
Das hat mich schon sehr lange interessiert und beschäftigt.
Ähnlich egalitär sind die Ergebnisse. Bekenntnis, der
Zwang des Müssens scheinen passé, stattdessen wird der
Job erledigt. Und am besten mit Fünfsterne-Qualität. In
der Kunst (nur hier?) aber ist dies eine Qualität, die zum
Weghören, Überhören oder Ertauben ermuntert. Und
hier schließt sich der Kreis zu dem, der von nichts mehr was
hören will. Wir bleiben im Lande. Schwarz vor Zorn, rot vor
Wut, aber eben auch (das spenden die Künstler) goldig.